Ich muss wieder eingeschlafen sein, denke ich und sehe auf mein Handy. Es zeigt mir einige Nachrichten von Lexy an. Ich beschließe ihr gleich zu antworten und lese die Nachrichten aufmerksam durch. In den meisten erkundigt sie sich nach meinem Wohlbefinden und dann folgen ungefähr zehn Nachrichten mit der Frage warum ich ihr nicht antworte und warum ich nicht zu erreichen bin. Erst da fallen mir die zwei Anrufe in Abwesenheit auf. Innerhalb von Sekunden tippe ich auf den kleinen Telefonhörer und rufe sie an. Ich habe ihr einiges zu erzählen.
"Hey! Da bist du ja endlich. Bist du verschollen? Sperrt dein Erzeuger dich im Keller ein? Oder das Stiefmonster? Ich kann immer noch nicht fassen, dass er einen Sohn hat."
"Zwei", korrigiere ich sie. "Die beiden haben zwei Söhne. Naja zusammen nur einen, aber Sabine hat einen Sohn mit in die Ehe gebracht."
"Oh mein Gott! Wie alt ist er?"
"Keine Ahnung, aber älter als ich, schätze ich. Er studiert schon."
"Uhh ist er heiß?" Ich muss kurz auflachen.
"Denke schon. Er sieht ganz gut aus." Ich werde ein wenig leiser, da ich sehe, dass meine Türe nur angelehnt und nicht geschlossen ist. Kilian muss sie offen gelassen haben, als er gegangen ist. Wann er wohl gegangen ist.
"Ist er denn nett zu dir?" Ich denke an die Situation zurück, wie er mich im Arm gehalten hat.
"Ja ist er. Aber naja ich habe ihn vielleicht zwei Stunden gesehen." Zwei Stunde, die gereicht haben einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Ich hab mich lange nicht so sicher gefühlt, wie in seinen Armen. Als könnte diese Umarmung die düsteren Gedanken eindämmen. Und er riecht gut. Wirklich gut.
Lexy erzählt mir gerade den neusten Tratsch und die heißesten Gerüchte, als meine Türe aufgestoßen wird. Im Türrahmen eine kleine Gestalt, die mich interessiert mustert. In den Händen hält er einen Teddy, der schon etwas mitgenommen aussieht.
"Lex, warte mal kurz", sage ich und lasse den Hörer kurz sinken. Fynn sieht mich an und legt konzentriert den Kopf schief.
"Hey Kleiner, was gibt es?", frage ich ihn, als er in mein Zimmer tritt. Ich mustere sein Outfit. Er trägt eine kurze Hose und ein T-Shirt mit irgendeinem Kinderserienmotiv darauf.
"Kannst du mit mir auf den Spielplatz gehen?", fragt er hoffnungsvoll mit großen Augen. Ob Sabine das erlaubt? Sie kennt mich quasi kaum und da will sie mir ihren Sohn anvertrauen?
"Ehm ich weiß nicht. Was sagt denn deine Mum dazu?"
"Mama sagt ich soll Kilian fragen, aber Kilian hat auch keine Zeit, und du bist meine Schwester." Als wäre dieser Fakt das Allheilmittel und die Erklärung für alles, denke ich und schenke ihm ein kleines Lächeln.
"Warte kurz Fynn, okay?" Ich hebe mein Handy wieder an mein Ohr.
"Sag nichts, geh mit dem Knirps auf den Spielplatz und ruf heute Abend nochmal an."
"Hab dich lieb, Lex. Bis später"
"Ich dich auch, Luna." Ich lege auf und sehe Fynn an. Ungeduldig tritt er von einem Bein auf das andere und hampelt ein wenig unbeholfen rum. Kinder haben einfach so viel Energie. Ich wünschte er könnte mir etwas von dieser Energie abgeben.
"Geh doch schon mal ins Esszimmer und ich komme gleich, okay?" Das lässt sich Fynn nicht zweimal sagen und flitzt wie der Blitz in Richtung Esszimmer. Ich schaue ihm erstaunt hinterher. Ich kenne ihn doch gar nicht und umgekehrt. ER kennt mich keine drei stunden und bezeichnet mich als seine Schwester.
"Fynn, wieso springst du denn so rum?", höre ich Sabine aus der Küche rufen und kann mir gut vorstellen, wie er hibbelig im Eingang steht und sehnsüchtig darauf wartet, dass jemand ihn zum Spielplatz begleitet.
"Mama! Luna geht mit mir auf den Spielplatz! Ist das nicht total cool?", ruft er begeistert und in meinem Herz funkt eine kleine Flamme von Wohlfühlen auf. Er scheint so unfassbar begeistert von dieser Vorstellung von uns beiden im Park. Ich stehe aus meinem Bett aus und inspiziere mich im Spiegel. Meine Haare sind durcheinander, doch nach einigen Malen, die meine Finger durch die Längen gleiten, sind sie wieder annehmbar geordnet. Ich blicke an mir herab. Die enge Sporthose kann ich anlassen, denke ich und mustere das T-Shirt an meinem Körper, als ich sehe, dass es ein Loch hat, ziehe ich es mir über den Kopf, was sich als schmerzhaftes Unterfangen herausstellt und greife blind in einen der Kartons, auf denen in Großbuchstaben "LUNA KLEIDUNG" steht. Ich ziehe ein graues Shirt hervor und ziehe es mir ohne einen weiteren Blick über. Es ist alt, hat seine besten Tage schon hinter sich und ich bin mir sicher, es ist nie wirklich meins gewesen. Ich habe das Shirt vor ein paar Jahren im Schrank meiner Mutter gefunden. Sie hat es erst nicht bemerkt, aber als sie es an mir gesehen hat, hatte sie einen seltsamen Ausdruck im Gesicht. Eine Mischung aus Bedauern und Freude. Ich weiß nicht wem es gehört, aber es ist einfach in meinen Besitz übergegangen. Mit einem letzten Blick trete ich in den Flur und gehe in Richtung Esszimmer, wo Fynn bereits mit funkelnden Augen auf mich wartet.
"Können wir los?", ruft er entzückt und greift nach einem bunten Eimer, in dem ich eine Schaufel identifizieren kann.
"Eh ja, warte nur noch kurz, ich muss noch kurz mit deiner Mama reden okay?" Fynn ist wohl zufrieden mit meiner Antwort, denn er stellt sich einfach neben die große moderne Haustür und wartet auf meine Rückkehr aus der Küche.
"Hey", sage ich zögernd und betrete den Raum, in dem es wunderbar nach Tomatensauce riecht.
"Oh hallo Luna, wie geht es dir? Fynn hat mir erzählt, du willst mit ihm auf den Spielplatz gehen." Sie schenkt mir ein breites Lächeln, welches pure Freude ausstrahlt. Dieses breite glückliche Lächeln einer Mutter. Mein Magen verkrampft sich und ich muss meine Fingernägel in meinen Handballen drücken um nicht zu schluchzen. Ich vermisse meine Mum.
"Ja genau." Ich räupere mich kurz, dann rede ich mit etwas gefestigterer Stimme weiter. "Ist das denn okay für dich? Ich meine, du kennst mich kaum und ich kenne Fynn noch nicht lange, bist du sicher, dass du mir deinen Sohn anvertrauen willst?"
"Aber natürlich, Luna. Dein Vater hat viel von dir gesprochen, wie verantwortungsvoll du bist. Fynn ist begeistert von dir. Er vegöttert dich seit er weiß, dass er eine Schwester hat." Schwester, denke ich trocken. Ich war immer Einzelkind. Immer. Ich war immer alleine. Ich bin jetzt alleine. Einsam. Verlassen. Meine Gedanken driften in eine Richtung die mir nicht gefällt. In die dunkle Ecke, die seit dem Tod meiner Mutter einen immer größeren Teil meines Kopfes einnimmt. Diese finsteren Gedanken, die einen nicht mehr los lassen, die immer wiederkehren und einen über Dinge nachdenken lassen, über die man eigentlich nicht nachdenken möchte. Darüber, dass das Leben plötzlich viel einfacher wäre, würde man es einfach beenden. Wenn man den Kampf aufgeben würde. Loslassen.

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Jones - Luna und Kilian
Fiksi RemajaLuna weiß genau, dass das was sie diesen Sommer erwartet hat kein Traum, sondern grausame Realität ist. Während sie sich damit abfinden muss, dass statt sonnen am Rhein plötzlich ein neues Leben samt Stiefbrüdern vor ihr liegt, wird sie das Gefühl n...