Kapitel 2

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Ich bin ganz sicher nicht bereit. Das wird mir in dem Moment klar, in dem mein Vater durch die Tür kommt, Handy in der Hand, Anzugjacke über den Arm gehangen. Er sieht aus, als wolle er zu einem Meeting und nicht gerade seine Tochter aus dem Krankenhaus abholen, die vor vier Wochen ihre Mutter verloren hat. Als wäre das hier nur ein lästiger Geschäftstermin. Kaum steht er kurz vor meinem Bett, klingelt sein Handy. Ohne überhaupt Hallo zu sagen geht er ran und beginnt sich zu unterhalten. Dir auch einen schönen Tag, Dad. Wieso muss ich zu ihm gehen? Ich kann auch einfach hier in Köln bleiben. Bei Lexy wohnen oder unter der Brücke. Alles ist besser, als meine nächsten Jahre mit diesem Mann zu verbringen.

"Nein ich sitze noch nicht wieder im Auto." Na da kann es ja einer kaum erwarten, dass mein Erzeuger wieder nach Hause kommt. Bestimmt ist das seine neue Frau.

"Ja ich melde mich, wenn wir uns auf den Weg machen." Wow, denke ich, es gibt hier ein wir. Komisches Gefühl.

"Bis später, Sabine." Neue Frau. Sag ich doch. Ich verdrehe die Augen und wende mich von ihm ab. Er schafft es nicht mir Hallo zu sagen, wieso soll ich ihm dann Hallo sagen?
Ich spüre eine kalte Hand an meinem Oberarm und zucke zusammen.

"Tut mir leid, ich wollte doch nicht erschrecken", sagt mein Erzeuger und zieht seine Hand weg, als hätte er sich an meinem Oberarm sie Handflächen verbrannt.

"Hast du nicht", gebe ich knapp zurück. Hat er wohl. Oder eher überrascht.

"Die Schwestern haben deine Papiere schon fertig gemacht. Wir können los sobald du bereit bist."

"Bereit? Bereit für was? Dafür meine Heimatstadt zu verlassen? Meine Mum zu verlassen? Zu dir und deiner scheiß neuen Familie zu ziehen? Dafür werde ich nie bereit sein. Nie."

In seinen Augen steht kurz Bedauern, dann werden sie genauso kalt, wie an dem Tag an dem er ging.

"Dann können wir ja jetzt los. Wir haben eine lange Fahrt vor uns." Ehe ich protestieren kann, hat er bereits meinen Koffer, den die Schwestern mir schon zusammengepackt haben, in der Hand und sieht mich erwartungsvoll an. Ich schlucke. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Mit jeder Straße die wir uns weiter von Köln entfernen, wächst meine Trauer. In meinen Augen stehen Tränen, als ich sehe, dass vom Dom nur noch die Spitzen zu erkennen sind, die immer kleiner werden, ehe sie irgendwann ganz verschwinden. Ich sitze auf der Rückbank, umklammere mein Handy und ignoriere den seltsamen Blick, den mit mein Erzeuger immer wieder durch den Rückspiegel zuwirft. Der soll mir bloß vom Leib bleiben.

"Brauchst du eine Pause? Willst du dir die Beine vertreten?", fragt er, als wir gerade ein Hinweisschild für einen Autohof passieren. Ich zucke nur mit den Schultern. Ich weiß, dass er sowieso anhalten wird. Vielleicht kann ich mich einfach auf der Toilette verstecken und er vergisst mich hier. Irgendwie werde ich schon zurück nach Köln kommen.

Obwohl ich mir extra Zeit lasse, wartet er vor der Türe auf mich. Er weiß wahrscheinlich am allerbesten, wie gut wir in unserer Familie abhauen können. Das hat er bewiesen, als er einfach nach München gezogen ist.

"Hast du Hunger?", fragt er mit dem Blick auf die Regale, an denen wir vorbei gehen. Ich schüttel nur stumm den Kopf. Ich habe einfach keinen Appetit. Und schon gar keinen Hunger. Ich glaube in den letzten Wochen habe ich gut sieben Kilo abgenommen. Seit Mum nicht mehr da ist, kann ich kaum etwas essen. Eigentlich kann ich gar nichts mehr so richtig. Es fühlt sich einfach falsch an etwas zu tun ohne sie dabei zu haben.

"Wirst du mich für immer anschweigen?" Auch daraufhin zucke ich nur mit den Schultern. Er seufzt ausgiebig, dann setzen wir ohne weitere Worte den Weg zum Auto fort. Was erwartet er denn? Dass ich freudig aufspringe, wenn ich ihn sehe? Nachdem er mich einfach zurück gelassen hat. Im Leben nicht.

Während mein Erzeuger also weiter Richtung München fährt wird es langsam dunkler und ich immer müder. Ich weiß nicht genau wie lange wir schon unterwegs sind, aber irgendwann fallen mir die Augen zu. Ich bin einfach so unfassbar erschöpft.

"Nein! Mum!" Schweiß gebadet und nach Luft schnappend reiße ich die Augen auf. Es ist nur ein Albtraum. Es ist nur ein Albtraum, versuche ich mir einzureden, aber wem mache ich etwas vor? Dieser Albtraum ist schmerzhafte Realität. Meine Mum ist tot. Weinend wälze ich mich im Bett, bis mir schlagartig klar wird, dass ich nicht mehr im Auto sitze. Ich liege in einem breiten Bett. Um mich herum sind Kissen aufgetürmt. Wo zum Teufel? Ich kann den Gedanken kaum zu Ende denken, da reißt mein Erzeuger die Tür auf und rennt halb panisch, halb überfordert auf mich zu.

"Luna, hey es war nur ein Traum." Ich schlage seine Hand weg eher er mich berühren kann.

"Fass mich nicht an. Geh weg. Lass mich in Ruhe." Mein Schluchzen wird immer lauter, die Tränen vernebeln meine Sicht, meine Lunge schmerzt als ich hektisch versuche Luft in sie zu saugen. Aber nicht geht mehr. Ich kann nur schreien, weinen und hoffen, dass ich mich dabei so verausgabe, dass ich wieder schlafen kann.

"Luna, es tut mir so leid. Ehrlich. Ich wünschte ich könnte dir helfen." Ein kläglicher Versuch.

"Hau endlich ab! Verpiss dich! Du bist doch schuld an allem!", schreie ich ohne Verstand. Er war mit Sicherheit an vielem schuld, aber gewiss nicht an dem Unfall. Trotzdem tut es gut ihm die Schuld zu geben. Endlich kann es jemandem in die Schuhe schieben. Endlich kann ich auf jemanden wütend sein, der noch lebt.

Geknickt verlässt mein Erzeuger mein Zimmer, lässt mich mit meinen Tränen und meinem Kummer allein. So wie er es schon früher getan hat. Er geht wortlos. Er dreht sich nicht einmal mehr um.

Ich weine noch mehrere Stunden - bis die Sonne aufgeht, dann schlafe ich vor lauter Erschöpfung ein. Mein Körper zwingt mich langsam in die Knie. Aber konnte man es ihm verübeln? Ich aß kaum etwas, bewegte mich nur bis ins Bad und wieder zurück. Und das seit Wochen. Vielleicht sollte ich einfach aufgeben. Meine Gedanken kreisen, während ich langsam in den Schlaf sinke.

"Hey du! Steh auf!", ruft eine kindliche Stimme und reißt mich aus meinem Schlaf. Ich öffne verschlafen meine Augen und sehe mich um. Neben meinem Bett steht ein etwas vierjähriger Junge. Seine dunkelbraunen Haare stehen ein wenig wirr auf seinem Kopf. Er muss auch gerade erst aufgestanden sein, denke ich und mustere ihn weiter. Er reibt sich kurz den Schlaf aus den hellbraunen Augen, die meinen zum verwechseln ähnlich sehen, ehe er mich mit einem kindlichen Lächeln anstrahlt. "Hey, ich bin Fynn und wie heißt du?"

Ich kann nicht anders als ihm ein kleines Lächeln zu schenken. Das ist definitiv ein besseres Weckkommando als meine Albträume.

"Ich heiße Luna." Er scheint kurz nachzudenken, dann hellt sich sein Gesicht auf.

"Ich kenne dich! Du bist auf den Fotos in Daddys Büro! Du bist meine Schwester!", quietscht er mit Begeisterung. Seine Schwester?

Jones - Luna und Kilian Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt