JUNI:
Ich hatte das Buch durchgelesen, auf jeden Fall fast. Die letzten Seiten noch nicht, denn die letzten Worte des vorletzten Kapitel lauteten: "Gebe dich zufrieden mit dem was du jetzt weißt."
Auf jeden Fall, kam es mir irgendwie falsch vor das Ende jetzt schon zu lesen, das letzte Kapitel.
Ich saß am Schreibtisch, den Stift im Mund und überlegte. Vor mir lag ein halbfertiges Bild. Es zeigte ein Mädchen mit langen, leicht gewellten Haaren, welches unter einem riesigen Wolf lag und mit ihm spielte. Ich wusste, dass ich mich gemalt hatte, wollte es mir aber nicht eingestehen. In letzter Zeit zeichnete ich wieder viel. Ich versuchte meine Situation darzustellen, glaube ich jedenfalls. Sicher war ich mir nicht immer, denn ich bemerkte, wie ich immer wieder Teile aus der nordischen Mythologie mit einbaute, wie auch jetzt mit dem Wolf. Jeder würde sagen, es wäre ein großer Hund, oder ein Wolf, für mich war es Fenrir.
"Haley, kommst du mal bitte", meine Mutter rief durch das ganze Hause. Heute war es bis jetzt ganz ruhig geblieben, ungewohnt. Wahrscheinlich lag es daran, dass sich die Beiden soweit wie möglich voneinander fernhielten. Was ich davon hielt, darum kümmerte sich niemand. Es war, als wäre ich nicht mehr existent.
"Was ist denn?", fragte ich genervt.
Gleichzeitig trat ich in das Wohnzimmer und schaute mich um. Meine Eltern saßen auf der Couch. Zusammen. Was zur Hölle ist hier los?
"Wir müssen mit dir reden!", antwortete mein Vater sanft. "Es ist so, wir haben eingesehen, dass es nicht ..." Er stockte.
"Wir haben eingesehen, dass es so nicht mehr weiter gehen kann", half meine Mutter nach. "Wir haben uns irgendwie auseinander gelebt!" Nichts Neues. Erzählt mir etwas Neues.
"Ok, und wieso bin ich jetzt hier?", fragte ich.
"Deine Mutter und ich lassen uns scheiden!", sagte mein Vater ernst.
Ich hatte die ganze Zeit damit gerechnet, jeden einzelnen Tag. Aber als ich es jetzt aus dem Mund von meinem Vater hörte, war ich dennoch geschockt. Ich schaute sie an, wie sie beide so da auf dem Sofa saßen. Mein bis eben noch genervtes Gesicht wurde kalt, emotionslos. Ich merkte wie die Wut wieder hoch kam, merkte wie sie mich ausfüllte. Sie entlud sich schlagartig. Der ganze aufgestaute Schmerz der vergangenen Monate.
"Und habt ihr dabei auch nur ein einziges Mal an mich gedacht, ja genau, ich war der Grund der ganzen Streitereien!", schrie ich sie an. "Aber habt ihr auch nur einmal daran gedacht, wie es sich für mich anfühlt? Nur ein einziges Mal?" Die Wut war weg, nicht mehr da. "Ihr könnt vielleicht damit leben, aber ich?" Die letzten Worte flüsterte ich nur noch, mir fehlte einfach die Kraft.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte nach oben.
Am nächsten Morgen ließen meine Eltern mich schlafen und als ich aufwachte schien die Sonne schon in das Zimmer. Es war ein schöner Junimorgen, fast zu schön. Meine Eltern gingen mir aus dem Weg, aber als ich in die Küche kam lag eine Entschuldigung für die Schule auf dem Tisch. Ich nahm sie und fuhr los.
Mir war es egal, dass die dritte Stunde schon längst begonnen hatte. Ich klopfte leise und machte dann die Tür auf. 26 Augenpaare starrten mich an, aber keiner sagte etwas. Ich ging schweigend nach vorne zum Pult und legte dem Lehrer den Brief meiner Mutter darauf, dann ich immer noch leise auf meinen Einzelplatz in die letzte Reihe. Seitdem Cleo nicht mehr da war, hatte ich nach und nach alle sozialen Kontakte verloren. Ach ja Cleo, was sie jetzt wohl macht. Du wolltest mir schreiben! Ich starrte aus dem Fenster, sah, wie sich die Bäume im Wind wiegten. Meine Gedanken schweiften ab in ferne Tiefen, der Unterricht war mir egal. Ich weiß auch nicht, wie ich dahin kam, aber plötzlich hatte ich ein Bild vor Augen. Es war ein junger Mann den ich mir vorgestellt hatte, er hatte schwarze, fast schulterlange, strähnige Haare. Seine Züge waren scharf gezeichnet, und um den Mund herum hatte er Narben, als wenn ihm jemand vor langer Zeit den Mund zugenäht hatte, und dieser danach gewaltsam wieder aufgerissen wurde. Die Züge und auch die Narben waren aber keinesfalls unattraktiv, im Gegenteil. Wenn da nicht etwas war, was meine Aufmerksamkeit noch mehr beanspruchte, seine Augen. So ein leuchten hatte ich noch niemals erlebt, es schien, als würde sich das Muster ständig bewegen und verändern, soviel Leben war in ihnen. Es war ein wunderschönes Grün, ein grün, wie man es aus Bilderbüchern kennt. Und diese Augen schauten mich direkt an.
Ich zuckte zusammen, schüttelte innerlich den Kopf, und das Bild verschwamm, bis ich es nicht mehr sehen konnte, in meinen Gedanken aber, war es gespeichert bis in alle Ewigkeit und auch den Namen desjenigen, den ich mir vorgestellt hatte, Loki Laufeyson.Ich hatte lange nach einem Gesicht für ihn gesucht, und endlich hatte ich es gefunden. Ich lächelte, es war ein Lächeln nach langer Zeit und ich hatte das Gefühl, als wäre der einzige Weg mich zum Lächeln zu bringen dieses Buch. Er ist der Gott der Heiterkeit, er brachte das Lachen nach Asgard, spukte es mir Großvaters Worte durch den Kopf, aber ich verdrängte diese schnell wieder. Ich werde langsam verrückt! Redete ich mir ein. Aber ein kleiner Teil von mir wehrte sich immer noch dagegen.
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Am Ende meiner Reise (Loki FF)
Historia Corta(ehemals You, at the end of my journey) Die Eltern ließen sich scheiden, die Freundin zog in die Schweiz und der Glaube an Gott verließ Haley nicht nur langsam, sondern rasend schnell. Sie vertraute niemandem mehr, redete nicht, saß ihre Tage ab, do...