Das wahre Ich

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Es war bereits Abend geworden. Draußen war es fast völlig dunkel, nur der Mond schien sehr hell und erleuchtete die Gegend. Die Mädels hatten beschlossen, erst am nächsten Tag heimzufahren und im Auto zu schlafen. Die Luft war ein wenig abgekühlt, trotzdem war der Abend sehr lau. Diana und Isa machten sich gerade auf den Weg zum Strand. Er war menschenleer und ruhig, alles, was sie hörten, war das Rauschen des Meeres, das Geräusch der brechenden Wellen und Geschrei von ein paar Möwen. „Es ist so idyllisch hier. Warum haben wir keinen Meerzugang in Österreich?", wollte Isa wissen. „Diese Frage könnte ich dir jetzt lang und breit beantworten, aber ich habe natürlich erkannt, dass sie nur rhetorisch war." Die beiden lachten. In diesem Moment fühlte sich Isa, als gäbe es nichts Schlechtes auf der Welt. Sie war einfach nur glücklich. „Isa?" Sie bewegte den Kopf nicht. Ihr Blick war immer noch aufs Meer gerichtet, doch sie entgegnete ein leises „Ja?". „Kannst du mir eine Frage zu hundert Prozent ehrlich beantworten?" Nun wandte sich Isa vom Ozean ab und blickte ihre Freundin etwas verdutzt an. „Natürlich." „Gut, was hast du mit deinen Beinen wirklich gemacht?" Isabella wandte sich wieder dem Wasser zu und sagte eine gefühlte Ewigkeit lang nichts. Dann blickte sie Diana mit Tränen in den Augen an: „Das, was du denkst. Ich will es nicht beim Namen nennen." Diana war ein wenig verwundert, doch verstand. Ihr Verdacht hatte sich also bestätigt. Der Mensch, der ihr am meisten bedeutete, hatte wohl gewaltige Probleme und ihr war es nie wirklich aufgefallen. Sie schämte sich dafür und gleichzeitig tat es ihr leid. Nun beugte sie sich zur weinenden Isabella und schloss diese fest in die Arme. Sie saßen einige Minuten lang einfach nur so da, bis Isa sich aus der Umarmung löste. „Diana? Ich glaube, ich muss dir was erzählen. Verurteilst du mich?" Die Freundin war nun noch verwunderter. „Natürlich nicht! Du bist meine beste Freundin. Du kannst mir alles sagen und ich liebe dich, wie du bist." Isa schluchzte. Genau das war es ja. Wie war sie? Wer war sie? Und vor allem: Warum war sie überhaupt? Sie stellte sich gerade die berühmte Frage nach dem Sinn des Lebens, die wohl noch niemand beantworten hatte können, außer dieser Viktor Frankl mit seiner Logotherapie, von der sie in der Psychologiestunde letztens gelernt hatten. „Na gut. Ich glaube... ich bin anders als du. Anders als die anderen...", begann sie zögernd. „Natürlich bist du das! Du bist ein Individuum. Wir alle sind Individuen und das ist auch gut so", entgegnete die Freundin. „Nein... das meine ich nicht. Ich bin... ganz anders. Ich glaube, ich... stehe nicht auf Männer", beendete sie ihren Satz kleinlaut. Daraufhin schluchzte sie laut los. Aber nicht aus Traurigkeit, nein, aus Erleichterung! Sie hatte es das erste Mal ausgesprochen, was sie seit so vielen Jahren wusste, aber immer wieder verdrängt hatte. Sie hatte es in diesem Moment für sich selbst akzeptiert. Sie bemerkte gar nicht, dass Diana noch neben ihr saß, so vertieft war sie in ihr Erfolgserlebnis. Es war insofern ein Erfolg, weil sie sich endlich in den unendlich scheinenden Tiefen ihrer selbst gefunden hatte und nun begann, das so anzunehmen. Obwohl sie von Diana noch keine Antwort bekommen hatte, war sie glücklich. „Ach Isa! Und deshalb hätte ich dich verurteilen sollen?! Das ist doch überhaupt nichts Schlimmes! Du bist und bleibst du für mich, ganz egal, wen du liebst." Nun war es endgültig um die junge Dame geschehen. Sie verspürte pure Erleichterung. Es war wirklich so, als würden ganze Felsbrocken von ihr abfallen, die sie jahrelang zerquetscht hatten. Auch so ein Outing hätte sie sich schlimmer vorgestellt. Vielleicht nicht extremer, aber schlimmer. Isabella ließ sich zurückkippen, sodass sie nun ganz im noch warmen Sand lag und die Sterne beobachten konnte. Die beste Freundin tat es ihr gleich. Sie redeten beide eine Zeit lang nichts, bis Isa sich wieder ein wenig beruhigt hatte und die ganze Sache rationaler angehen konnte. „Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir bin. Ich habe aber trotzdem noch Angst, dass du plötzlich Angst bekommst, ich sei in dich verliebt oder so. Das wird niemals passieren. Natürlich liebe ich dich, aber nur als meine beste Freundin, als meine Seelenverwandte. Ich werde nie romantische Gefühle für dich entwickeln, und selbst wenn, die Freundschaft ginge vor und das würde ich niemals zerstören wollen. Nur damit das von Anfang an klar ist. Ach ja, ich möchte dir jetzt ein einziges Mal die Chance geben, dich von mir abzuwenden. Ich wäre todunglücklich, doch wenn dir das Ganze zu extrem wird, darfst du unsere Freundschaft natürlich hier und jetzt beenden", meinte sie ein wenig verklemmt. Diana lächelte sie ungläubig den Kopf schüttelnd an: „Ich werde mich niemals von dir abwenden, Isabella Sophia Koch! Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Außerdem weißt du zu viel." Dieser Scherz brachte auch die Freundin ein wenig zum Schmunzeln. „Und noch was: Dass zwischen uns beiden nie was sein wird, war mir bereits klar, als du dich eben geoutet hast, das hätte ich nicht mal angenommen, aber danke trotzdem für die Info." Isabella war also lesbisch. Glaubte sie. Hoffte sie zwar nicht, doch sie glaubte das. Nein, sie wusste es. Aber irgendwie auch nicht. Aber dann hätte sie sich nicht geoutet, oder? Wäre sie unsicher gewesen, hätte sie das nicht so sehr beschäftigt. Eigentlich hatte sie es immer schon gewusst. Schon als sie die ersten paar Male darüber nachgedacht hatte. Als der Gedanke sie nicht mehr losließ, hätte sie es eigentlich schon bemerken müssen. Das hatte sie im Nachhinein betrachtet ja auch getan, irgendwie aber auch nicht. „Komplizierte Scheiße sowas", dachte sie genervt und doch froh. „Und darf ich noch was anmerken?", kicherte Diana. „Ähm... Wenn ich verneine, tust du es dann nicht?", wollte Isabella wissen. „Ähm... doch, das weißt du."

„Eben, wieso fragst du dann?" Diana war nun ein wenig neben der Spur. Isabella versuchte vermutlich gerade, die Stimmung etwas zu verbessern, obwohl sie ja gar nicht so schlecht war. Es war nun ein weiteres Mal klar, dass sie sich voll und ganz vertrauen konnten, was auch Diana echt schön fand. „Hätte ich dich jetzt „verstoßen", wie wärst du heimgekommen?", fragte die Autofahrerin lachend. Isabella dachte kurz darüber nach und stellte dann fest, dass sie das wirklich schlecht geplant hatte. Wobei, eigentlich hatte sie das alles ja gar nicht geplant, von dem her. „Wie gehen wir in Zukunft mit deinem Lesbendasein um?", wollte Diana schließlich noch wissen. Beim Erwähnen dieses Wortes zuckte Isabella zusammen. Sie hasste diesen Begriff. Es klang so hart und abwertend. Sie musste bei längerem Nachdenken feststellen, dass es in allen anderen Sprachen viel besser klang. Auf Englisch war es zum Beispiel fast süß, „I'm a lesbian" mit einem verschmitzten Unterton anzumerken. Auf Italienisch wäre es wahrscheinlich „Sono lesbica", doch dieses Wort musste sie erst nachschlagen, sie hatte sich ja noch nie getraut, es zu suchen. Doch mit „Ich bin lesbisch" war sie überhaupt nicht zufrieden. Das stellte sie auch vor Diana gleich klar und diese versprach, den Begriff zu vermeiden. „Außerdem möchte ich in nächster Zeit nicht darauf angesprochen werden, wenn das ginge..." Diana lächelte ihr beruhigend zu: „Ich werde so tun, als hättest du das nie gesagt. Es bleibt ja doch alles gleich für mich. Ich habe dich ja eigentlich schon so kennengelernt."

Und ja, ich glaube an SchicksalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt