Isabella öffnete verschlafen ihre Augen und blickte auf die Uhr. Es war zehn am Vormittag. Heute war der vorletzte Ferientag und je näher der Schulbeginn rückte, desto nervöser wurde sie. Heute war nämlich auch der letzte Tag, an dem ihre Eltern nochmal wohin fuhren und sie Anna sehen könnte, doch das sollte wohl nichts werden, denn Isa hatte gerade ihr Handy eingeschaltet und eine Nachricht der Frau, die sie liebte, gelesen.
Hey Liebes! Ich kann heute leider doch nicht vorbeikommen, mir ist was dazwischengekommen... Aber wir sehen uns dann ja in der Schule. Tut mir echt leid!
In ihr machte sich Enttäuschung breit. Anna hatte ihr eigentlich versprochen, ihr heute ihr Geburtstagsgeschenk vorbeizubringen, denn sie war Anfang der Woche ja endlich 18 geworden. Die beiden hatten zwar telefoniert, doch Isa hatte Anna nicht sehen können, weil sie den Tag mit ihren Eltern und Diana verbracht hatte. Aber sie wollte diese Frau natürlich nicht wegen des Geschenkes sehen, das sie für sie hatte, nein. Isa hatte eigentlich gehofft, Anna würde sie beim Planen ihres Outings unterstützen, vor dem sie sich schon wirklich fürchtete. Aber eigentlich war Planen das falsche Wort, denn auch wenn Isa ihren Part proben würde, die Reaktion ihrer Eltern konnte sie ja doch nicht voraussehen. So ließ sie sich nun betrübt zurück in ihr Kissen fallen, um noch ein wenig zu dösen.
Kurze Zeit später stand sie vor ihrem Spiegel, der am Schrank angebracht war und übte tatsächlich ihre Rede: „Mama, Papa, kann ich kurz mit euch reden? Es gäbe da etwas Wichtiges, das ich euch gerne sagen würde... Es ist mir wichtig, dass ihr es von mir erfahrt und ich hoffe auch, dass ihr das versteht und es für euch okay ist und zwar..." Mitten im Satz brach Isabella ab. Ihr fiel es so schon so verdammt schwer, das auszusprechen, wie sollte sie das dann vor ihren Eltern schaffen? „Isa, reiß dich zusammen!", ermahnte sie sich jetzt streng. „Also... Da gibt es einen Aspekt, den... den ihr noch nicht über mich wisst, weil ich das selbst erst gerade herausgefunden habe... Nein, fuck das klingt so dumm!" Sie drehte die Augen über, wandte sich genervt von ihrem Spiegel ab und machte sich auf den Weg nach unten, um etwas zu frühstücken.
Anna, ich hab' Angst... Ich hab' solche Angst vor dem Outing. Was, wenn sie es nicht akzeptieren?
Isa hatte Anna eigentlich nicht schreiben wollen, da sie befürchtete, sie würde finden, dass sie übertrieb, doch sie fühlte sich so allein mit dieser Aufgabe, sodass sie sich letzten Endes doch umentschieden hatte. Diana konnte sie ja auch nicht schreiben, denn die war wieder mal bei Moritz und der wusste ja nichts von all dem. Jetzt stocherte das Mädchen in ihrem Müsli rum, auf das sie im Moment überhaupt keine Lust hatte. Beim Gedanken an den morgigen Tag verging ihr nämlich gehörig der Appetit. Sie hatte einfach extrem Schiss und war unzufrieden mit der Gesamtsituation.
*ding dong* Das Läuten der Türglocke riss sie aus ihren Gedanken und sie machte sich verwundert und nach dem Vorfall mit Martin ein wenig vorsichtiger als zuvor auf den Weg zur Haustür. Sie blickte durch den Türspion und sah... eine völlig aufgelöste Diana! Sofort riss sie die Tür auf. „Hey Süße! Was ist denn mit dir passiert?! Komm rein." Diana fiel ihr heulend um den Hals und Isa schloss die Türe hinter ihrer besten Freundin. „Er ist so ein Arsch!", stammelte diese unter Tränen. „Wer denn? Moritz?!" Beim Nennen dieses Namens schluchzte die Besucherin laut auf. „Ja! Er... er... Er meint er kann das einfach nicht mit uns. Dieses Schwein! Küsse ich so schlecht?! Bin ich schlecht im Bett? Was ist es denn?!" Isabella drückte ihre beste Freundin an sich und deutete ihr an, sich auf die Couch zu setzen, doch bevor sie auch nur etwas sagen konnte, wischte sich Diana verärgert die Tränen aus dem Gesicht und kam Isa gefährlich nahe. Diese machte einen verwunderten Schritt zurück, doch Diana trat wieder auf sie zu, drückte sie gegen das Wohnzimmerfenster, durch das man die Einfahrt der Familie Koch erkennen konnte und... küsste sie einfach! Isabella war wie versteinert, ließ diesen Kuss, ohne ihn zu erwidern, einfach über sich ergehen. Es dauerte eine Weile, bis sie realisiert hatte, was da gerade passierte und jetzt stieß sie ihre beste Freundin vorsichtig aber bestimmt von sich. „Diana?! Was ist denn bitte in dich gefahren?!", entfuhr es ihr ein wenig zu verärgert. „Verdammt, du hast doch beim See letztens gesagt, du würdest mich küssen! Was ist jetzt?!" Isabella war vollkommen perplex. „Aber das war doch nur Blödelei! Das meinte ich doch nicht ernst! Du kannst nicht einfach über mich herfallen!" Dianas Miene verfinsterte sich, dann schrie sie ihre Freundin regelrecht an: „Doch das kann ich! Du bist doch lesbisch und ich wieder single, also wo liegt das Problem?!" Isabella schüttelte überfordert den Kopf und streckte ihre Hände in Dianas Richtung, um sie von sich fernzuhalten, denn das Mädchen hatte schon wieder den Versuch gestartet, ihr ihre Lippen auf den Mund zu drücken. Was war denn bloß in sie gefahren?! „Los, lass uns Sex haben! Was haben wir denn zu verlieren?!" Sie versuchte Isa gerade das Shirt auszuziehen, während diese nun für einen Bruchteil einer Sekunde den Kuss erwiderte, sich dann aber entsetzt von ihrer besten Freundin abwandte. „Du kannst mich hier nicht einfach überfallen, Diana, hör sofort damit auf! Das grenzt schon an eine Vergewaltigung!" Isabellas Gegenüber blickte sie mit entgeisterter Miene an. Sie? Jemanden vergewaltigen? Nein. So empfand sie das nicht, doch was empfand sie gerade überhaupt? Der Kuss, zumindest der kurze Part, den Isabella erwidert hatte, hatte in ihr etwas noch nie Dagewesenes ausgelöst und es hatte sich verdammt gut angefühlt. Keine zwanzig Zentimeter passten mehr zwischen sie, dann wollte Diana auf einmal verzweifelt wissen: „Wieso kannst du mich nicht küssen, Isa? Hast du denn etwas zu verlieren?" Isabella wusste nicht, was sie darauf jetzt antworten sollte. Und wie sie etwas zu verlieren hatte und zwar ihre Beziehung zu Anna. Das konnte sie Diana aber nicht sagen, die wäre stocksauer, dass sie nie davon erfahren hatte, denn die beiden hatten sich mal den Schwur gegeben, sich wirklich niemals etwas zu verheimlichen, außer es ginge um ein Geburtstagsgeschenk oder eine andere Überraschung. Was aber noch schlimmer war: Anna könnte in Schwierigkeiten geraten, wenn Isa jetzt redete. Doch Diana würde ihr Geheimnis niemals zerstören, oder? Sie war doch ihre beste Freundin! Vielleicht sollte sie es ihr anvertrauen, dann würde sie sie sicher auch bei ihrem Outing unterstützen. „Diana, ich... Ich habe... jemanden zu verlieren...", gab Isabella kleinlaut zu. Diana starrte sie nur fragend an, sodass Isa fortfuhr: „Ich liebe eine Frau... Sie heißt Anna und sie liebt mich auch und wir..." Doch weiter kam sie gar nicht, denn Diana stieß ihre Freundin mit einem kräftigen Stoß von sich, deren Rücken somit hart ans Fensterbrett gedrückt wurde und schrie sie in einem Ton an, den Isabella noch nie zuvor von ihr gehört hatte: „UND DAS HAST DU MIR NICHT ERZÄHLT?! Ich bin deine beste Freundin! Oder nein... Ich war es wohl... Wie konntest du mir das verheimlichen, du Miststück?! Wir haben uns mal was geschworen, erinnerst du dich?!" Diana rannte zur Tür, Isa lief ihr hinterher und wollte sie zurückhalten, um ihr alles zu erklären, doch Diana stürmte mit den Worten „MELDE DICH NIE WIEDER BEI MIR! ICH WILL DICH NICHT MEHR SEHEN! ICH BRAUCHE SO JEMANDEN WIE DICH NICHT IN MEINEM LEBEN!" aus dem Haus. Das Mädchen lief ihr bis zur Einfahrt nach, mittlerweile mit von Tränen getrübter Sicht und wollte sie stoppen, dabei fiel ihr der weiße Golf nicht mal auf, der vor ihrer Einfahrt parkte. Die Frau in dem Auto beobachtete mit entrüsteter Miene das Geschehen und startete jetzt den Motor. Auf das Geräusch aufmerksam geworden, warf Isabella ihren Kopf nun in die Richtung des Fahrzeugs und erblickte zu ihrem Entsetzen... Anna, die gerade das Auto in ihrer Einfahrt wendete, ihr nochmal einen undeutbaren Blick zuwarf und mit quietschenden Reifen davonbrauste. Isa lief ihr nun ohne nachzudenken hinterher und rief ihr verzweifelt nach, sie solle doch bitte stehenbleiben und sie alles erklären lassen, doch der Golf setzte seinen Weg ungebremst fort. Nach einigen hundert Metern war das Mädchen völlig außer Atem und verlangsamte das Tempo. Es brachte ja doch nichts. Sie joggte zuerst noch kurz, warf dann ihren Kopf verzweifelt gen Himmel und sank auf ihre Knie. Das Gesicht in ihren Händen vergraben, schluchzte sie laut auf. Hatte Anna sie etwa gesehen vorhin? Das durfte nicht wahr sein, sie musste ihr das erklären! „Verdammte Scheiße!", stieß Isabella nun hervor. Der Tag konnte wohl nicht mehr schlimmer werden...
Die Schülerin saß nach all diesen vergangenen Stunden immer noch heulend auf ihrem Bett. Sie hatte versucht, Anna anzurufen, doch die war nicht rangegangen und auch bei Diana kam sie immer wieder nur auf die Mailbox. Sie musste mit den beiden reden, ihnen jeweils die Situation erklären. Ihr Opa sagte immer: „Es lässt sich alles ausreden." Aber wie sollte sie das bitte anstellen, wenn ihr keiner zuhören wollte? Isa wusste zwar immer noch nicht, was Anna alles gesehen hatte, aber sie wusste definitiv, dass sie etwas gesehen haben musste, sonst hätte sie nicht so reagiert. Die junge Dame hatte immer noch den Blick der Lehrerin vor Augen, der irgendwie so hasserfüllt und gleichzeitig so enttäuscht und verletzt gewesen war, dass es sie schmerzte, wenn sie nur daran dachte. Dabei war ja nichts so, wie es schien! Isabella seufzte. Sie hatte Anna jetzt eine Nachricht geschrieben, in der sie um ein klärendes Gespräch bat, doch die Unterrichtspraktikantin hatte nicht mal ihr Internet eingeschaltet. Isa versuchte es per SMS, doch auch hier schien sie keinen Erfolg zu haben, denn eine halbe Stunde später hatte sie noch immer keine Antwort erhalten. Weder von Diana, noch von Anna. „Gut, dann muss ich eben zu ihnen fahren", dachte sich Isabella, doch jetzt dämmerte es ihr, dass sie nicht mal genau wusste, wo Anna überhaupt wohnte. „Fuck! Gut, dann kümmere ich mich zuerst um Diana."
Doch gerade als sie das Haus verlassen wollte, erspähte sie durch das Fenster, dass ihre Eltern schon zurückgekehrt waren und sich gerade angeregt mit den Nachbarn unterhielten, mit denen die Familie Koch sonst eigentlich nicht so gut auskam. „Seltsam", dachte das Mädchen und in dem Moment, als sie die Tür einen Spalt breit geöffnet hatte und hinaustreten wollte, schnappte sie die verärgerten Worte ihres Vaters auf: „Unsere Tochter?! Das kann nicht sein. Da irrt ihr euch bestimmt." Isabella erstarrte. Worüber redeten die Erwachsenen denn bitte? Sie bekam eine Gänsehaut und dieser Schauer, der zuletzt bei Martins Besuch so intensiv gewesen war, bahnte sich jetzt wieder seinen Weg über ihren Buckel. „Unglaublich, das ist sie ja wirklich!" Isabella riss die Augen auf. Die Nachbarin zeigte ihren Eltern gerade etwas auf ihrem Handy. Nein, das durfte nicht wahr sein. Nein, das war bestimmt etwas Belangloses, sie sollte sich nicht immer gleich Sorgen machen. Die Nachbarn würden schon nichts bemerkt haben, sie könnte ihr verstecktes Leben bestimmt beruhigt weiterleben, denn an ein Outing war nach dieser Aufregung heute überhaupt nicht mehr zu denken. Ihre Eltern hatten die letzten Jahre nichts von Isabellas Homosexualität gewusst, also wäre das ein, zwei Wochen länger auch kein Problem. Jetzt gab es nämlich Wichtigeres zu regeln und zwar eine Freundschaft und eine Beziehung zu retten, oder was auch immer Letzteres eben war.
„ISABELLA SOPHIA KOCH!" Isa zuckte zusammen. Ihr Vater hatte von unten heraufgerufen. Das Mädchen hatte sich nämlich dazu entschieden, das mit Diana später zu klären und sich wieder in ihrem Zimmer verkrochen, weil sie immer noch nicht wusste, worüber ihre Eltern mit den Nachbarn geredet hatten. Sie wusste nur, dass sie sehr verärgert wirkten, weshalb sie es für keine so gute Idee hielt, aus dem Haus zu gehen. Nach dem Schrei ihres Vaters jetzt, hatte sie aber wirklich die Angst gepackt, denn er war ausgesprochen zornig, so war er sonst nie. Isa trat langsam zu ihrer Zimmertür, atmete ein letztes Mal tief durch, um sich dann einfach ihrem Schicksal zu stellen. Im Endeffekt würde schon alles gutgehen, egal war passieren würde. Sie musste nur fest daran glauben. „Ja?", gab sie jetzt so selbstbewusst wie möglich zurück. „Runter hier, sofort! Wir müssen reden!", antwortete ihr Vater, nicht weniger verärgert als vorhin, aber ein wenig leiser. Isabella trippelte zitternd und mit schwitzenden Händen die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo ihr ihre Mutter ins Auge fiel, die dort einfach nur auf dem Sofa saß und... weinte. „Bitte nicht, das darf nicht passieren, es wir alles gut", versuchte sich Isa in Gedanken zu überzeugen, doch spätestens jetzt war ihr klar, dass entweder jemand gestorben war, oder dass ihr verstecktes Leben nun endgültig aufflog und sie wusste beim besten Willen nicht, was davon ihr lieber wäre...
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Und ja, ich glaube an Schicksal
Novela Juvenil[Abgeschlossen] „Glaubst du an Schicksal?" Sobald sie es ausgesprochen hatte, kam es ihr fast ein wenig blöd vor, dass sie nicht einfach etwas Banales für den Anfang gewählt hatte, sondern gleich so in die Tiefe gehen hatte müssen, doch Isa lächelt...