Es wirkte, als hätte Bärtner sie wie bei einer Talentshow als nächste Kandidatin angekündigt, denn sobald er aufgehört hatte, zu sprechen, war sie eingetreten. Fehlte nur noch, dass sie anfing zu singen oder zu tanzen. Isabella hätte der Gedanke jetzt sicher zum Schmunzeln gebracht, wenn sie nicht gerade todunglücklich gewesen wäre. Sie würde sich nicht von dieser Frau distanzieren können. Zwar standen die Sommerferien bevor, doch im nächsten Jahr würde sie sie erst recht wieder sehen müssen und zwar täglich. Und auch wenn sie im Sommer von ihr loskäme, sie würde im Herbst dann einen gewaltigen Rückschlag erleiden. Aber was all das noch toppte: Sie würde sie dann nicht nur wieder regelmäßig treffen, sie würde sie als Lehrerin haben, die sie zu beurteilen hatte. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren soeben wahr geworden und es fühlte sich wirklich beschissen an. Die Situation war insgesamt einfach so abgefuckt. Wie sollte sie das letzte Jahr bitte überstehen und dann auch noch bei ihr maturieren?! All diese Gedanken nagten an ihr und sie hätte am liebsten einfach mit den Jungs darüber geredet, doch abgesehen vom Fakt, dass niemand von ihnen über ihre Homosexualität Bescheid wusste, hätte sie Annas Neigung zum gleichen Geschlecht nicht mal erwähnen können, auch wenn sie sie gerade hasste, das würde sie ihr nicht antun. Das würde sie ihr niemals antun.
Nun saß sie also da, in einer Gruppe mit Julian, Lukas und Marco und zerbrach sich den Kopf über die Mathebeispiele, die ihr heute einfach noch weniger eingehen wollten als sonst schon. Sie war noch nie ein Genie in diesem Fach gewesen, aber sie war auch bei weitem nicht die Schlechteste. Diese Rolle überließ sie immer noch gerne Katharina. Isabella schaffte jedes Mal solide ihre Dreier und manchmal sogar Zweier, also gutes Mittelfeld wäre wohl die treffendste Beschreibung. Doch heute hatte sie eigentlich viel mehr Motivation als sonst. Das konnte einerseits an der Gruppenarbeit liegen, mehr noch aber bestimmt an Anna, die selbstbewusst durch die Klasse schritt und sich das Spektakel nun schon eine halbe Stunde lang ansah. „Frau Kollegin, wie sieht's aus? Hast du dir schon ein Bild gemacht?", wollte Bärtner gerade von Anna wissen. Sie standen nur wenige Meter von Isas Gruppe entfernt, weshalb sie jedes Wort verstehen konnte. „Ja, sie scheinen alle Gruppenarbeiten zu mögen. Ihr macht das wohl öfter, hm?", antwortete die Lehrerin freundlich. „Ja, ja... Wir machen das sehr oft sogar. Ich probiere immer viele verschiedene Arten aus, um den Unterricht aufzubereiten!", versicherte ihr Bärtner gerade bestimmt. Ein wenig zu bestimmt, wie Isa fand. „Hat er gerade gesagt, wir machen das oft?!", entfuhr es ihr. Julian schaute sie verdutzt an: „Ähm, was meinst du?" „Hat Bärtner A... Frau Khom gerade weismachen wollen, dass wir viele verschiedene Dinge in seinem Unterricht machen?", entgegnete sie den Jungs nun noch eine Spur entsetzter als vorhin. „Ich weiß nicht, ich höre für gewöhnlich keine uninteressanten Gespräche von Lehrern mit...", antwortete Lukas abweisend. „Ich auch nicht, wobei ich bei dieser scharfen Maus doch vielleicht damit beginnen sollte", meinte Julian mit einem Gesichtsausdruck, den Isa gerade am liebsten mit ihrer Faust zerstört hätte. Er hatte doch wohl nicht gerade ihre Anna „scharfe Maus" genannt, oder? Fiel ihm denn nichts Besseres ein? Engel zum Beispiel? Das passte definitiv eher zu ihr... Und direkt auf ihre Wut folgte ein Tagtraum über diese Frau und sie, in dem sie auf einer Wiese standen und sich küssten und lachten. Erst Bärtners Stimme riss sie wieder aus ihren Gedanken. Er sprach nun leiser, damit es wohl kein Schüler mitbekam: „Hättest du Lust, mit mir mal... auszugehen?" Diese Frage erschütterte das Mädchen jetzt enorm. Sie fühlte, wie sich Wut in ihr breitmachte. Unbändige Wut. Sie wäre am liebsten aufgesprungen, hätte Annas Arm gepackt und sie aus der Klasse gezogen, sie so vor der sicher zehn Jahre älteren Bestie gerettet und einfach in ihre Arme geschlossen. Zehn Jahre. Etwa so viel wäre bei ihnen beiden doch bestimmt auch um. Das war ein schlechtes Argument gewesen. Ein verdammt schlechtes Argument...
Als Isabella sich umdrehte, um das Spektakel sozusagen mit allen Sinnen betrachten zu können, sah sie zu ihrer Erleichterung, dass Anna das aber wohl so gar nicht wollte. Sie musste sie da rausholen, auch wenn sie sich ignorierten. Isabella hatte über Letzteres nicht mehr lange nachgedacht, schon schnellte ihre Hand in die Höhe: „Frau Professor Khom, ich habe eine Frage. Könnten Sie mal kurz herschauen?" Die Jungs blickten ihre Freundin skeptisch an. Anna drehte sich, immer noch sichtlich überfordert mit Bärtners Frage und damit, was sie denn antworten sollte, zu ihr um. Ihre Augen funkelten sie an und für einen Moment trafen sich ihre Blicke, als hätten diese sich gerade Unmengen zu erzählen. Isa spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde und ihr Herz wieder schneller schlug. Dann schritt die Lehrerin langsam auf die Gruppe zu und fragte: „Ja? Wie kann ich dir helfen?" Sie hatte etwas sehr Eigenartiges in ihrer Stimme, so hatte Isa sie noch nie reden gehört. Es klang so... professionell. „Ich...", stammelte sie, „habe eine organisatorische Frage und eine zu dieser Funktion hier." Anna schaute sie dankbar an, als hätte sie kapiert, was Isas Ziel gewesen war. „Also, zuerst möchte ich wissen, ob Sie denn jetzt immer bei uns in der Stunde sein werden, um unseren Leistungsstand sozusagen zu erheben", fragte Isa, der leider einfach nichts Besseres einfiel. „Naja, immer nicht. Aber ich werde schon öfter mitkommen, ja", entgegnete ihr Anna und diesmal war ihr Ton schon viel freundlicher. „Ah, okay. Und jetzt zum fachlichen Problem: Wie bilde ich die Stammunktion von f(x) hier?" Anna schloss kurz und für alle anderen vermutlich unmerklich die Augen, nur Isa bemerkte es, da sie sie genau musterte und sich schwer tat dabei, ihren Blick von ihr abzuwenden. Dann holte die Unterrichtspraktikantin Luft und erklärte der Schülerin das Beispiel mit einer Ruhe, die das Mädchen nicht erwartet hatte. Diese Frau wusste, wovon sie sprach und wie man verständlich erklären konnte. Isa hatte das Beispiel nämlich von Anfang an kapiert gehabt, aber Annas Erklärung bestätigte ihr das gerade nochmal.
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Und ja, ich glaube an Schicksal
Teen Fiction[Abgeschlossen] „Glaubst du an Schicksal?" Sobald sie es ausgesprochen hatte, kam es ihr fast ein wenig blöd vor, dass sie nicht einfach etwas Banales für den Anfang gewählt hatte, sondern gleich so in die Tiefe gehen hatte müssen, doch Isa lächelt...