Ganz unten

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Diesen grausamen Gedanken beiseitegeschoben, stand sie nun im Türrahmen und blickte mit bleichem Gesicht zuerst ihre Mutter, dann ihren Vater an. Wann hatte sie ihre Mutter bitte zum letzten Mal weinen sehen? Das war wahrscheinlich damals gewesen, als sie als Kind komplett dreckig aus der Sandkiste ins Haus gekommen war und ihre Mutter einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte, weil sie mit dem Putzen nicht mehr nachgekommen war. Sie hatte damals sogar den Wettex nach der kleinen Isabella geworfen, die sich sofort schuldig gefühlt hatte. Es waren dieselben Schuldgefühle gewesen, die Isabella in diesem Moment verspürte, wenn sie ihre Mama anschaute, nur dass sie jetzt deutlich stärker waren.

Eine gefühlte Ewigkeit sprach keiner der drei, jetzt ergriff Isabellas Vater aber das Wort: „Isabella, wir sind enttäuscht. Du... Du... Ich kann es gar nicht in Worte fassen, wie sehr du uns enttäuscht hast!" Er schlug seine Arme verzweifelt über seinem Kopf zusammen. Im Mädchen schien etwas zu zerbrechen. In tausende Einzelteile, die scharfe Kanten hatten. Diese Worte fühlten sich an wie ein Messerstich ins Herz und die Wunde wollte nicht mehr aufhören, zu bluten. Sie senkte den Blick und das Zittern ihres Körpers wurde nur noch stärker. Gut, es war also niemand gestorben. Immerhin. Doch noch hatte ihr Vater das Todesurteil ihres Geheimnisses noch nicht ausgesprochen, also bestand doch noch ein kleiner Funken Hoffnung, dass es sich doch um etwas anderes handelte, oder? Nein. „Du meinst also, lesbisch zu sein?" Die Worte schlugen wie der Blitz ein und hallten in Isabellas Kopf wider. Er hatte den Begriff, mit dem sie ihre Sexualität definierte, so abschätzig ausgesprochen, dass es sie schmerzte. Was sollte sie darauf jetzt bitte antworten?! Sie wandte ihren Blick, den sie inzwischen vorsichtig gehoben gehabt hatte, wieder ab und nickte stumm, dabei traten ihr wieder die Tränen in die Augen, die sie krampfhaft zu verbergen versuchte. Sie durfte einfach nicht schwach werden. Sie musste endlich für sich einstehen und sich selbst nicht immer verleugnen. Jetzt meldete sich ihre Mutter zu Wort, nein, sie schrie regelrecht: „UND WANN HÄTTEST DU UNS; DEINE ELTERN; BITTE DARÜBER INFORMIERT?! HM?!" Isa heulte jetzt aber doch. Die gebrochene und doch so wutentbrannte Stimme ihrer Mutter konnte sie einfach nicht ertragen. Isa fühlte regelrecht, wie ihre Welt in sich zusammenstürzte und sie unter dem Schutt und den Trümmern begrub. „Ich... Ich...", schluchzte sie, „Ich wollte es euch sagen, wirklich! Aber ich..." „DU WAS?!", donnerte ihr Vater mit bebender Stimme. „Ich hatte einfach solche Angst!" Die Miene ihres Vaters wurde streng und er stellte betroffen fest: „Du hattest Angst. Vor deinen Eltern. Wahnsinn. Haben wir dir denn das Gefühl gegeben, du müsstest vor uns Angst haben?" Isabella sackte auf ihre Knie und starrte zu Boden. Egal welche Antwort sie jetzt wählen würde, es wäre die falsche. Ihre Eltern waren enttäuscht von ihr, weil sie ihnen ihre Sexualität verschweigen hatte. Dabei war ihr das selbst doch erst vor kurzer Zeit bewusst geworden! „Nein. Naja", setzte sie an, fuhr dann jedoch mit fester Stimme vorsichtig fort, „Eigentlich habt ihr mir das Gefühl gegeben, es sei euch nicht wichtig, wie ich mich fühle... Das soll jetzt kein Vorwurf sein, aber wenn wir mal wirklich miteinander reden, dann geht es immer nur um die Schule oder ums Geld... Ihr habt euch noch nie wirklich ernsthaft für mein Leben interessiert!" Okay, es war wirklich die falsche Antwort. Vielleicht hätte sie sich die Vorwürfe sparen sollen, doch wann sollte sie all das sonst zur Sprache bringen, wenn nicht jetzt? Das war ja wirklich der Grund dafür gewesen, dass sie nie mit der Sprache rausgerückt war. Der Kopf ihres Vaters wurde jetzt hochrot vor Zorn und er wollte etwas sagen, doch das Schluchzen ihrer Mutter übertönte seine Worte. Erst jetzt brachte er es fertig, wieder deutlich zu sprechen: „Sieh dir deine Mutter doch an! Ist es das, was du bezwecken wolltest?! Uns Leid zufügen mit deiner egoistischen Art?!" Isa war entrüstet über diese Unterstellung, denn das war das Letzte, was sie gewollt hatte. Sie hatte sogar versucht, ihre Eltern davor zu bewahren, eine lesbische Tochter haben zu müssen, doch irgendwann hatte sie eingesehen, dass das eben einfach nicht ging. Sie war eben so. „Wer auch immer das ist, fühltest du dich gut dabei? Fühlst du dich richtig?! Oder meinst du, einfach nur rebellieren zu müssen?!", ihr Vater streckte ihr sein Handy hin, worauf sich ein Bild befand, wo sie und Anna eng umschlungen auf der Wohnzimmercouch lagen. Es wurde offensichtlich aus dem Treppenhaus ihrer nun noch mehr verhassten Nachbarn geschossen. Zu Isabellas Erleichterung war Annas Gesicht aber nicht zu erkennen. Das war ja immerhin etwas. „Papa! Wieso sollte ich rebellieren? Ich liebe diese Frau, verdammt! Und daran kann ich nun mal nichts ändern!" Der Blick ihres Vaters wurde nun noch finsterer. „Das ist keine Liebe, das ist Spinnerei! Von mir aus, mach diese Erfahrungen und dann bring uns einen Schwiegersohn heim!" Isabella glaubte nun, sich verhört zu haben. Einen Schwiegersohn? War das sein Ernst? Er war doch immer so gegen Jungs gewesen! Aber das wäre jetzt wohl das geringere Übel, hm? „Das ist nicht einfach eine Phase, die wieder vorbeigeht, Papa! Das ist, wer ich bin!", versuchte das verzweifelte Mädchen so ruhig wie möglich zu erklären, doch sie war mittlerweile wieder vom Boden aufgestanden und trat vorsichtig ein paar Schritte zurück. Sie schüttelte empört den Kopf über die Meldung ihres Vaters und stieß abwertend die Luft aus, die sie bis vorhin angehalten hatte. Nun schluchzte ihre Mutter wieder auf. „Das ist nicht meine Tochter, die hier spricht! Reiß dich gefälligst zusammen! Du bist keine verdammte Lesbe!" Als natürliche Reaktion auf diese noch dazu sehr abfällige Verwendung dieses Isabella sowieso so verhassten Wortes, zuckte sie zusammen. „Mama... Es tut mir leid. Aber das bin ich. Ich bin verliebt und ich liebe eine Frau... Was soll ich denn machen?! Ich kann doch nichts für diese Gefühle!" Die Tränen schossen nun nur so aus ihren Augen und tropften traurig zu Boden. Eine nach der anderen. Isabella verstand, dass ihre Eltern schockiert waren, weil sie offensichtlich überhaupt nicht mit sowas gerechnet hatten, doch sie wünschte sich nichts sehnlicher, als Verständnis. Sie war doch ihre Tochter! „Wir haben recherchiert. In den USA gibt es ein renommiertes Umerziehungscamp. Dort wirst du hingehen und erst wenn du wieder normal bist, kommst du wieder zurück. Die Dauer der Therapie hängt davon ab, wie gut du kooperierst. Wir werden dich für diese Zeit von der Schule abmelden", verkündete der Vater nun kühl. Isabella glaubte, sich verhört zu haben. Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen und offenem Mund an, dann ließ sie ihren Blick zu ihrer Mutter gleiten, die den Kopf gesenkt hielt. Isabella wollte etwas sagen, doch es kamen einfach keine Worte aus ihrem Mund. Sie wollte sich wehren, ihnen erklären, dass keine Therapie der Welt das heilen könnte, weil es keine Krankheit war, doch auch dazu war sie nicht fähig. Sie saß nur stumm am Boden und weinte. Es fühlte sich an, als würde ihr Leben mit Lichtgeschwindigkeit an ihr vorbeiziehen und sie hätte keine Möglichkeit, es aufzuhalten, oder vor einer Kollision mit diversen Hindernissen zu bewahren. Sie war nur noch Passagier, nicht mehr die Lokführerin im Zug ihres Lebens. Jegliche Kontrolle oblag jetzt jemand anderem und zwar offenbar ihren Eltern. Konnte sie dieses Unheil denn überhaupt noch aufhalten? Würden ihre Eltern irgendwann verstehen, dass es okay war, so zu sein? So zu fühlen? Dass es in Ordnung war, anders zu sein? „Ich gehe da nicht hin", verlautbarte Isabella jetzt ihre Entscheidung und die Überzeugung in ihrer Stimme war plötzlich zurückgekehrt, „Nichts und niemand bringt mich dazu, meine Lebenszeit in so einer unmenschlichen Einrichtung zu verbringen. Ich liebe Frauen und ich werde das auch weiterhin..." Doch sie konnte ihren Satz nicht beenden, denn ihr Vater hatte ausgeholt und... ihr eine geklatscht! Das Mädchen war schockiert und legte reflexartig ihre Hand auf die schmerzende Wange. Der Vater funkelte sie, mit immer noch gehobener Hand, zornig an. „Hör sofort auf, so einen Mist zu reden! Sprich das nie wieder aus!" Isa kroch am Boden einige Meter zurück, um sich vor der bedrohlichen Faust zu schützen, die er jetzt gebildet hatte, doch ihr Vater trat näher auf sie zu. In ihr breitete sich ein Gefühl der Angst aus. Er hatte sie als Kind ein einziges Mal geschlagen und das nur sanft im Gegensatz zu dem Hieb, den sie gerade einstecken hatte müssen. Sie hatte zum Glück nie Gewalt erfahren, doch das sollte sich jetzt wohl ändern, denn sobald sie sich vom Boden aufgerichtet hatte, schlug der Vater erneut zu. Diesmal mit der Faust. Direkt in ihr Gesicht. Isa hielt sich sofort die schmerzende Stelle. Sie nahm ihre Hand von ihrem Mund und darauf erblickte sie entsetzt... Blut! Sie blutete. Ihre Lippe war aufgesprungen und alles tat weh. „Du kannst mich noch so oft schlagen, ich werde dadurch nicht heterosexuell verdammt!" Die Mutter schrie im Hintergrund und stürzte sich auf den wutentbrannten Vater. „Hör sofort auf damit! Du kannst sie nicht schlagen! Sie ist immer noch unsere Tochter!" In Isabella war aber schon etwas zerbrochen, das sich nicht wieder reparieren lassen würde. Sie hatte das Vertrauen zu ihrem Papa verloren. Ja, sie hatte regelrecht Angst vor ihm. Sie musste hier raus, doch bevor sie abhauen konnte, stürzte er sich wieder auf sie und schrie: „SIE IST NICHT MEHR UNSERE TOCHTER! VERSCHWINDE AUS DIESEM HAUS! ICH WILL DICH NIE, NIE WIEDER HIER SEHEN! UND WIR WERDEN KEINEN CENT MEHR FÜR DICH AUSGEBEN!" Isabella glaubte, sich verhört zu haben. Er hatte sie doch tatsächlich gerade... rausgeworfen? Nein. Das durfte nicht passiert sein, sie musste träumen. Sie kniff sich und es schmerzte. Ihre Gedanken überschlugen sich, doch keiner war zu fassen, keiner war zu verstehen. Sie hatte die Situation noch nicht ganz begriffen. Ein Blick zu ihrer Mutter, die schon wieder den ihrigen betroffen abgewandt hatte, verriet ihr jedoch, dass sie ihm wohl zustimmte. „M... M... Mama?", fragte sie vorsichtig und mit erstickter Stimme, die mehr ein Hauch war als irgendetwas anderes. Der Kloß in Isas Hals war so groß, dass sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Die Mutter zuckte zusammen und weinte jetzt wieder. Sie schaute ihre Tochter an und für einen Bruchteil einer Sekunde glaubte Isa, sie würde sie mitleidig anblicken, doch dann verfinsterte sich auch ihre Miene. „Isabella. Geh jetzt besser. Du kannst... nicht hierbleiben. Entweder du gehst in dieses Camp, oder du verschwindest aus unserem Haus... Aus unserem Leben..." Isabella stockte der Atem. Sie glaubte, nun wirklich ersticken zu müssen. Noch nie hatte sie sowas aus dem Mund ihrer Mutter gehört. Die war doch immer diese liebende, ruhige, nette Frau gewesen, von der sie ihre schüchterne Art hatte! „Entscheide dich", warf Mama Koch jetzt eindringlich nach, wohl in der Hoffnung, ihre Tochter würde sich zu dem Umerziehungscamp hinreißen lassen. Isabella glaubte, ihre Beine würden sie nicht mehr lange tragen und sie würde zusammensacken, doch das geschah zu ihrer Verwunderung nicht. Sie stand noch immer und hatte ihren verzweifelt bettelnden Blick auf ihre Mutter gerichtet. Nach einer gefühlten Ewigkeit begann sie zu sprechen, mit immer noch gebrochener, aber um Welten überzeugterer Stimme als je zuvor: „Ihr stellt mich gerade wirklich vor die Entscheidung, mein Leben weiterleben zu dürfen, nur unglücklich, oder... zu gehen?" Isabellas Mutter schüttelte den Kopf: „Nein. Unglücklich bist du nur, wenn du dich dazu entscheidest, dein Ding einfach durchzuziehen." „Unglücklich machst du nur uns!", fauchte ihr Vater jetzt wieder, der seine Sprache wohl wieder zurückerlangt hatte und dem Mädchen immer noch gefährlich nahe stand. Auch seine Augen strahlten immer noch diese Wut aus, die Isas Blut gefrieren ließ. „Du bist egoistisch. Du weißt, dass wir arbeiten, um dir ein glückliches Leben zu ermöglichen", setzte er drauf. „Nein. Aber sicher nicht! Du wirfst mir jetzt nichts vor! Ich war immer dankbar für die Möglichkeiten, die ihr mir eröffnet habt, auch wenn ich nie ins Internat wollte, sondern einfach nur ins Gymnasium hier im Ort, wo alle meine Freunde hingegangen sind. Ich habe mich nie beklagt, wenn ihr nur von der Arbeit geredet habt, anstatt euch ernsthaft mit mir zu unterhalten. Ich habe es euch nicht mal wirklich übelgenommen, dass ihr ohne mich in den Urlaub gefahren seid, wo wir doch für dieses Jahr einen Familienurlaub ausgeredet gehabt hatten! Das einzige, was ich wollte, war, dass ihr stolz auf mich seid, weshalb ich mich in der Schule extrem angestrengt habe! Ich wollte, dass ihr euren Arbeitskollegen, deren Meinung euch aus unerfindlichen Gründen ja so wichtig ist, stolz von eurer Tochter erzählen könnt! Und ich habe meine Homosexualität vor euch so lange geheim gehalten, weil ich euch nicht enttäuschen wollte. Ich habe verdammt darunter gelitten! Ich hasste mein Leben, weil ich nicht so sein wollte, doch dann bin ich draufgekommen, dass ich es nicht ändern kann. Ich habe es mir nicht ausgesucht, mich in eine Frau zu verlieben, oder habt ihr etwa irgendwann die Entscheidung getroffen, euch ineinander zu verlieben?! Man weiß nie, wo die Liebe hinfällt und man kann es schon gar nicht steuern... Aber es ist nun mal so, es ist nichts falsch daran! Keine Krankheit. Keine Störung. Es macht krank, das stimmt. Aber nur, wenn man in Verdrängung lebt, sich selbst verleugnet, so wie ich das die letzten vier, fünf Jahre gemacht habe. Es tut so, so weh, das glaubt ihr gar nicht... Aber es ist umso befreiender, wenn man sich das irgendwann eingestehen darf und von den Menschen in seinem Umfeld trotzdem so akzeptiert wird, wie man ist. Diana hat mich stets aufgebaut und es war für sie nie ein Problem. Ihr seid meine Eltern, verdammt! Was ist bei euch bitte falsch gelaufen?! Wovor habt ihr denn Angst?!" Isabella heulte jetzt wieder, aber diesmal war es sogar befreiend, zu spüren, wie die Tränen einfach aus ihr herausschossen. Zu fühlen, wie all die Last der letzten Jahre mit einem Mal von ihr abfiel. Doch das allerschönste war, überhaupt zu fühlen. Keine Leere mehr, die sich durch ihr Herz fraß. Vielleicht eine Narbe, die den Schmerz versiegte, das wäre alles, was sie davontragen würde. Sie war frei und sobald sie diese Worte hinausgeschmettert hatte, fühlte es sich an, als würde wieder Luft in ihre Lungen strömen. In jede Nische. Es war, als wäre sie plötzlich ganz stark, als könnte sie Berge versetzen. All diese Worte hatten raus müssen und es hatte ihre Eltern zweifelsohne auch getroffen. „RAUS HIER! WIR WOLLEN DICH NIE WIEDER SEHEN! DU BIST EIN UNDANKBARES, ABARTIGES ARSCHLOCH!" Gut, vielleicht hatten ihre Worte nicht das erreicht, was sie damit erreichen hatte wollen, nämlich, dass ihre Eltern ihr endlich Verständnis entgegenbrachten und die Situation aus einer anderen, aus ihrer Perspektive betrachteten, doch die Aussage ihres Vaters traf sie trotzdem nicht mehr so hart, wie alle anderen zu Beginn dieser Diskussion, denn sie hatte endlich mal alles gesagt, was sich in ihr über die Jahre hinweg so angesammelt und aufgestaut hatte und das tat ausgesprochen gut. Und selbst wenn sie wusste, dass ihr Leben nie wieder so sein würde, wie es bis hierhin gewesen war, preschte sie jetzt wütend und gekränkt aus dem Wohnzimmer und rannte ein vermutlich letztes Mal die Treppe hinauf, entschlossen, ihre Sachen zu packen. Sie würde gehen. Sie würde dieses Haus verlassen, so wie es ihre Eltern wünschten, denn sie würde sich nicht mehr unterdrücken lassen. Und sie würde sich selbst auf keinen Fall mehr verleugnen und verstecken für das, was sie fühlte. „Du bist eine starke, unabhängige junge Dame", dachte sie. Das waren Schusters Worte gewesen, als Isabella wegen des Bildes so verzweifelt gewesen war. Sie hatte sie damit damals richtig aufgebaut, doch dass diese Worte nochmal so wichtig für sie werden würden, hätte sie niemals gedacht. Dass ein Foto ihr komplettes Leben nochmal zerstören würde, aber auch nicht.

Jetzt hatte sie ihr Zimmer abgeschlossen und sie begann damit, eine Reisetasche mit Kleidungsstücken zu füllen, von denen sie dachte, sie würde sie weiterhin tragen. Im Prinzip mistete sie ihren Schrank aus, nur hatte das eben einen anderen Hintergrund und sie erledigte dies in sicher dreifacher Geschwindigkeit. Genug Gewand eingepackt, machte sie sich nun daran, in einen Rucksack alle möglichen Erinnerungsstücke zu füllen, die sie gerne mitnehmen wollte. Dabei kamen ihr erneut die Tränen. Es war so surreal, sie konnte den Gedanken nicht fassen, dass sie ihr Zimmer nie mehr wiedersehen würde. Aber alles konnte eben auch nicht mit, also musste sie wohl oder übel aussortieren und Dinge zurücklassen. Über manche ihr wichtige Gegenstände, die sie an ihre Eltern erinnerten, strich sie sanft mit den Fingern, beschloss dann aber, diese auch dazulassen, denn es brächte ja sowieso nichts. Sie wäre nur noch trauriger, wenn sie immer wieder daran erinnert werden würde. In Lichtgeschwindigkeit hatte sie ihre sieben Sachen gepackt und steckte ihr Handy ab, das sie sicherheitshalber nochmal geladen hatte, damit sie wenigstens Akku hätte. Dabei bemerkte sie, dass die beiden Frauen sich noch immer nicht gemeldet hatten und es versetzte ihr einen Stich. Einen Stich, der kurzzeitig mehr schmerzte, als die negative Reaktion ihrer Eltern und deren zerschmetternde Worte. Doch bald schon war der Rauswurfschmerz wieder präsent und überschattete alle anderen Gefühle. Sie schweifte fast wieder ab und wollte das vorhin Geschehene nochmal Schritt für Schritt durchgehen, um ihre Gedanken zu sortieren, doch dann wurde ihr bewusst, dass es kein Zurück mehr gab und sie einfach nur so schnell wie möglich dieses Haus verlassen sollte. Wohin, war ihr jedoch noch ein Rätsel, darüber hatte sie nämlich noch nicht nachgedacht. Denn auch wenn sie sich dieses Worst-Case-Szenario bereits ausgemalt hatte, um im schlimmsten Fall nicht unvorbereitet getroffen zu werden, konnte sie jetzt nirgendwo hin. Diana war es immer gewesen, zu der sie geflüchtet wäre, doch die hatte nach der Trennung ihre eigenen Probleme und war außerdem stocksauer auf sie, weil sie ihr ja das mit Anna verschwiegen hatte. Zu dieser konnte sie wiederum nicht, da sie sie ignorierte und vermutlich gesehen hatte, wie sie und Diana sich beziehungsweise wie Diana sie geküsst hatte. Ach, könnte Isabella den heutigen Tag nur rückgängig machen. Sie würde alles dafür geben... So schnappte sie sich aber nur noch ihr Lieblingskuscheltier, das sie bekommen hatte, als sie zwei Jahre alt war, schulterte ihren Rucksack, griff nach der Reisetasche und ihrer Gitarre und hastete die Treppe runter. Auch wenn sie schon ewig nicht mehr mit diesem Instrument musiziert hatte, es war wertvoll und es hatte sie damals viel Geld gekostet. Sie würde es nicht einfach hierlassen.

Jede Stufe knarrte und dieses Knarren war dem Mädchen so vertraut. Sie konnte es einfach nicht glauben, dass sie nicht mehr hierher zurückkehren würde. Niemals wieder. Sollte sie sich von ihren Eltern verabschieden? Ein letzter Blick ins Wohnzimmer, in dem die beiden noch immer mit hochroten Köpfen auf der Couch saßen und beim Fenster rausschauten, brachte sie aber dazu, einfach wortlos zu gehen. Es brächte sowieso nichts, was würden sie denn groß sagen? Sie hatten sie ja rausgeworfen.

Isabella zog sich ihre bequemsten Schuhe an, streifte sich schnell eine dünne Jacke über, da es draußen bereits düster wurde und verließ, immer noch vor Wut und Verzweiflung zitternd und mit roten und geschwollenen Augen, das Haus, ohne nochmal zurückzusehen. Als sie die kleine Veranda gerade hinter sich gelassen hatte, schoss es ihr: „Ich habe kein „Pass auf dich auf" von Mama gehört... Das ist auch noch nie passiert..." Ihre Mutter sagte diese Worte nämlich eigentlich jedes einzelne Mal, wenn sie Isabella dabei zusah, wie sie durch die Haustür stapfte, um irgendwohin zu gehen. Sie musste sich wohl einfach daran gewöhnen, auf sich gestellt zu sein. Allein zu sein. Und sobald sie das Grundstück verlassen und einen letzten Blick zurück gewagt hatte, brachen alle Emotionen stärker als je zuvor aus ihr hervor. Die Tränen traten wieder in ihre Augen und so oft sie in den letzten Stunden versucht hatte, diese zurückzuhalten, jetzt war das nicht mehr wichtig. Sie sackte erneut auf ihre Knie und schrie laut und mit verzweifelter Stimme in die Nacht hinein. Sie war ganz unten angekommen. Am Tiefpunkt ihres bisherigen Lebens. Doch von dort aus konnte sie immerhin nicht mehr weiter fallen...

Und ja, ich glaube an SchicksalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt