Und ja, ich glaube an Schicksal

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Es war wirklich Anna Khom, die da gerade beschämt zu Boden blickte und dann vorsichtig erklärte: „Ich... wir müssen reden... Aber nicht hier..." Isa schluchzte auf, versuchte sich durch ein tiefes Durchatmen und ein kurzes Augenschließen zu beruhigen und fragte dann mit bebender Stimme: „Wo dann?" Anna lächelte nun auch mit glänzenden Augen, sichtlich erleichtert, dass Isabella sie nicht gleich abgewiesen hatte und presste hervor: „Ich kenne einen Platz hier, den würde ich dir... gerne zeigen, sofern... du nichts dagegen hast..." Isa nickte vorsichtig und entgegnete dann halblaut: „Okay..."

Anna nahm die Hand der 18-Jährigen, die sich gerade ihre Schuhe angezogen und eine leichte Jacke übergeworfen hatte und Isa folgte der Person, die sie immer noch mehr liebte als sich selbst und deren Berührungen sie immer noch verrückt machten, zum Lift. Keine der beiden redete auch nur ein Wort, bis sie die riesige Ausgangstür des Wohnhauses erreicht hatten. Direkt davor stand ein Taxi, das Anna zielstrebig ansteuerte und sie raunte nur „Piazzale Michelangelo", bevor sich das Gefährt dann auch schon in Bewegung setzte. Es sprach immer noch niemand auch nur ein Wort. Isa blickte starr zum Fenster hinaus und betrachtete die Umgebung. Irgendwie spürte sie dann jedoch Blicke auf sich ruhen, so wandte sie sich kurz ab und ihr Blick traf direkt auf den von Anna, deren sanfte, schokobraune Augen sie wohl wirklich die ganze Zeit gemustert hatten. Sie lächelte das Mädchen an, was Isabella jedoch nicht erwidern konnte. Ihr fehlte einfach die Kraft dazu, weshalb sie sich nun auch wieder dem Geschehen außerhalb des Fahrzeugs widmete. Sie konnte die Situation einfach nicht begreifen. Was tat Anna hier? Was hatte sie vor? Sie würde es nicht überleben, wenn sie sie nochmal verletzte, denn sie fühlte sich so schon nur noch wie eine leblose Hülle...


Draußen war es noch nicht stockdunkel, jedoch bereits ziemlich düster. Die meisten Bewohner hatten schon das Licht eingeschaltet und als sie gerade eine Brücke über den Arno überquerten, erkannte Isabella die berühmte „Ponte Vecchio" in der Ferne, deren beleuchtete Juweliergeschäfte sich im Wasser des Arnos spiegelten und ihr einen atemberaubenden Anblick boten. Sie hatte noch nicht viel von dieser Stadt gesehen und doch hatte sie sich schon in sie verliebt. „Sette euro, per favore", sprach der Fahrer und Anna überreichte ihm einen Zehn-Euro-Schein. Dann stiegen sie beide aus dem Taxi und die Ältere begann endlich zu reden: „Wir müssen nur noch hier zwei Kurven weiter rauf, die sind mit dem Auto nicht mehr befahrbar, aber ich verspreche dir, die Anstrengung wird sich gelohnt haben." Jedes ihrer Worte schien sie sehr vorsichtig zu wählen, um nichts Falsches zu sagen, doch Isabella war ihr sowieso schon wieder vollkommen verfallen. Sie könnte jetzt alles mit ihr machen. Es gab schon wieder kein Zurück mehr. Hatte es das überhaupt je gegeben? Das Mädchen war einfach nur verliebt und verwirrt und doch lag ihr Herz in Trümmern.

„Unglaublich!", staunte sie nun. Sie hatten einen der höchstgelegenen Aussichtspunkte von ganz Florenz erreicht. Es handelte sich hierbei um einen kleinen Platz, der von einem sehr breiten Steingeländer umgeben wurde, auf dem man gut sitzen könnte. Das tat Anna jetzt auch und Isabella trat, ein wenig schüchtern, auf die ausgestreckte Hand der Unterrichtspraktikantin zu. Sie nahm sie zögerlich an und Anna half ihr herauf, sodass auch sie nun hier sitzen und die tausenden Lichter der Häuser der toskanischen Hauptstadt betrachten konnte. Der Himmel am Horizont war noch rötlich gefärbt und tauchte die Stadt in ein angenehm düsteres Licht. Eine Weile saßen die beiden Frauen einfach nur da und bewunderten die Aussicht, dann fasste Anna sich ein Herz und begann zu sprechen: „Isa... Ich... Äh... Wow. Ich hatte mir bereits zurechtgelegt, was ich dir sagen würde, aber es ist... weg... Ich..." Isa näherte sich mit ihrer Hand vorsichtig Annas, die sie neben sich auf dem Steingeländer liegen hatte. Sie strich vorsichtig darüber und bat sie darum, einfach gerade heraus zu sagen, was sie herführte und was hier überhaupt passierte. „Na gut. Ich... Lass mich von vorne beginnen: Beim Ball, du... Du hast diese Drogen genommen und ich... Nein, weiter vorn. Du hast versucht, mit mir zu reden und ich habe dich abblitzen lassen, weil... Verdammt, ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll!" Isabella schaute Anna jetzt tief in die Augen und meinte: „Dann lass mich zuerst. Ich liebe dich. Und das habe ich immer getan, das musst du wissen. Ich habe dich auch nicht betrogen, das hätte ich niemals gemacht, du hast Diana und mich dabei beobachtet, wie meine beste Freundin versucht hat... mich zu küssen. Aber nicht aus Liebe, im Gegenteil! Aus Hass auf einen Typen, der Minuten zuvor mit ihr schlussgemacht hatte. Sie hatte sich einfach nicht unter Kontrolle und... dann kam es zu diesem einen kurzen Kuss, bei dem ich nur an dich gedacht habe! Ich habe versucht, sie von mir wegzustoßen, doch sie war stärker und als es mir gelang... Ich habe von dir erzählt, damit sie endlich von mir ablässt. Natürlich nicht, dass du meine Lehrerin warst, aber dass ich dich liebe und... Dann hast du sie aus dem Haus stürmen sehen und mich, wie ich ihr nachrannte, weil sie sauer war, dass ich ihr das mit uns nicht schon früher anvertraut habe. Für dich muss das so ausgesehen haben, als hätte ich eine Neue oder so... Jedenfalls... Es tut mir so verdammt leid... Es war wirklich nicht, wie es schien und doch verstehe ich deine Reaktion... Wobei du wohl nicht mehr dasselbe für mich fühlst, also warum konntest du mir das nicht ins Gesicht sagen? Es tat einfach so weh, dich und Bärtner so glücklich zu sehen. Auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dass du glücklich bist! Aber es tat so weh..." Anna waren wieder die Tränen gekommen und sie wandte sich ab. Sie versuchte, sich wieder zu sammeln und nachdem ihr das endlich gelungen war, sprach sie so ruhig wie möglich: „Wow... Hätte ich dich früher zu Wort kommen lassen, dich nicht immer von mir gestoßen, als du das Gespräch gesucht hast, ich... Wir... wären niemals getrennte Wege gegangen?" Isa zuckte mit den Schultern, wollte fortfahren, doch Anna hatte endlich die Worte gefunden, die sie für richtig hielt: „Lass mich dir endlich erklären, warum ich hier bin... Also, ich habe heute im Konferenzzimmer gehört, wie Danny berichtet hat, dass du das Stipendium für Florenz angenommen hast, von dem ich nicht mal was gewusst habe und... dann habe ich sie gefragt, wo genau du bist und sie erzählte mir davon, dass du sogar später anreisen durftest wegen deines Krankenhausaufenthaltes und dass du heute Morgen mit dem Zug gefahren bist... Ich freute mich für dich, dachte, wir beide könnten endlich einen Schlussstrich ziehen, doch dem war nicht so, denn Danny erzählte mir, dass... deine Eltern dich Ende der Sommerferien rausgeworfen haben und du jemanden liebst, der dich verlassen hat. Sie erzählte mir, dass du sogar deine beste Freundin verloren hattest und wie sehr du unter all dem gelitten hast... Sie meinte, das sei dein Neustart, deine Chance, endlich wieder einen Sinn im Leben zu sehen und... meine Welt ist zusammengebrochen. Wirklich. Ich musste da weg, bin in mein Zimmer gestürmt und dort unter einem... Heulkrampf zu Boden gesackt... Ich habe erst da realisiert, dass ich dir dein Leben durch meine Ignoranz nur weiter zur Hölle gemacht habe, anstatt in dieser schwierigen Zeit für dich da zu sein und von da an wusste ich, ich muss dich sehen. Mit dir reden. Ich habe sofort die wichtigsten Sachen gepackt und den nächsten Zug genommen. Diese unendlich lange Zugfahrt war unerträglich, denn ich hatte seit langem mal wieder Zeit zum Nachdenken..." Bis jetzt hatte Isa ungläubig zugehört, sie ließ es sich aber nicht nehmen, nun etwas einzuwerfen: „Ich weiß. Die Zugfahrt war auch für mich der Horror... Aber... rede bitte weiter..." Und Anna nickte leicht und fuhr umgehend fort: „Jedenfalls habe ich realisiert, dass ich mir nichts mehr vormachen kann. Ich liebe dich, Isabella... Nur dich. Und das mit Bärtner war so dumm und gemein von mir. Ihm gegenüber, dir gegenüber, sogar mir gegenüber. Ich habe keine Sekunde davon genossen, stets an dich gedacht, aber ich war der Meinung, du hättest mich ersetzt... Und ich liebte dich so sehr, dass ich wollte, dass es dir gut ging, egal ob ich darunter leiden musste. Ich wollte, dass du glücklich werden kannst... Was aber offenbar nicht der Fall war, wie ich jetzt weiß..." Isa starrte ihr Gegenüber ungläubig an. Sie schnappte hörbar nach Luft und meinte jetzt vollkommen erstaunt: „Du liebtest Bärtner nie? Und ich war dir nicht egal? Du hast nicht von Anfang an mit mir gespielt, weil es dir Spaß gemacht hat und mich dann verlassen, weil es dir doch zu riskant wurde?!" Anna riss den Mund auf. Sie war sichtlich schockiert. Sie hatte mit vielem gerechnet, doch damit, dass Isabella denken würde, sie hätte sie nie geliebt, definitiv nicht. „Wie bitte?! Ich hatte noch nie intensivere Gefühle für jemanden als für dich! Und ich liebte meine erste Freundin... Doch bei dir ist es nochmal ein ganz neues Level... Wir haben eine andere Verbindung auf einer Ebene, die ich nicht in Worte fassen kann..." Isa schüttelte ungläubig den Kopf. „Verdammt, wie konnte es nur so weit kommen?" Und Anna sprach weiter: „Wir hätten viel früher reden müssen... Ich weiß, das war es, was du immer tun wolltest, aber ich dachte, ich würde dir helfen, endlich damit abzuschließen und mit deiner Neuen glücklich werden zu können, indem ich dir die kalte Schulter zeige. Ich kannte die Frau, die dich küsste, ja nicht, denn ich habe sie nur aus der Ferne gesehen und als du in der Schule dann... Katharina geküsst hast, war ich zwar sehr verwundert, doch ich dachte, sie wäre es, an die du dein Herz verloren hast. Ich dachte, aus Hass wäre Liebe geworden. Hätte ich dich nur früher erklären lassen, dass das Diana war, es wäre alles anders gekommen... Nur ich war der Meinung, wenn du wütend auf mich sein könntest, dann... dann... Ach ich weiß ja auch nicht. Ich wollte nur, dass du dein Glück findest, denn du bedeutest mir mehr als alles andere auf dieser Welt... Hätte ich gewusst, dass deine Eltern..." Anna hatte bis hierher unbeholfen vor sich hin gestottert, jetzt hielt sie aber inne, denn sie wollte das nicht ansprechen und Isabella damit nur noch weiter verletzen, doch diese ermutigte sie, weiterzusprechen: „Sprich es ruhig aus, ich kann mittlerweile recht gut damit umgehen..." Die ältere der beiden blickte sie mit ehrlicher Sorge in ihren Augen an, fuhr dann aber vorsichtig fort: „Naja... Hätte ich gewusst, dass deine Eltern dich hinausgeworfen haben, weil sie uns nicht akzeptieren und hätte ich dich den Vorfall mit Diana nur erklären lassen... Ich hätte dich einfach niemals so behandeln dürfen, Isa. Das war nicht nur aus Lehrerinnenperspektive verdammt unprofessionell, sondern auch so moralisch äußerst verwerflich. Ich habe dir nur zusätzliche Last auf deine Schultern gelegt, bis du unter dieser zusammengebrochen bist und du wohl dachtest, dein einziger Ausweg seien die Drogen. Es tut mir so unendlich leid, Isa!" Das Mädchen ließ ihren Blick gedankenverloren über die „Ponte Vecchio" schweifen, die von hier oben noch atemberaubender aussah, sah Anna dann aber wieder an: „Du konntest das ja nicht wissen... Ich weiß auch gar nicht, ob ich dir das überhaupt erzählt hätte, um ehrlich zu sein. Mein Stolz war mir da noch sehr wichtig... Da war er zumindest noch vorhanden..." Anna nickte verständnisvoll, dann redete sie weiter: „Spätestens beim Ball hätte ich es aber erkennen müssen, dass ich dir noch wichtig war... Bin... Keine Ahnung... Du wolltest so dringend mit mir reden und was mache ich? Ich lege auch noch meinen Kopf auf Bärtners Schulter! Gebe ihm das Gefühl, ihn wirklich zu lieben und dir jenes, mit dir abgeschlossen zu haben. Im Prinzip bin ich schuld an der ganzen Misere, die danach folgte..." Isa schaute gen Himmel und meinte dann: „Daran bin nur ich selbst schuld. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle und habe dann etwas so unglaublich Dummes getan... Ich hätte sterben können, das war mir die ganze Zeit über sehr wohl bewusst, aber es war...mir vollkommen egal..." Die letzten Worte hatte sie nur kleinlaut von sich gegeben. Sie hasste sich für diese Dummheit. Sie schämte sich. „Ich habe dir ja nicht mal geholfen, als ich gesehen habe, wie du dort lagst... Aber ich konnte einfach nicht... Ich... Verdammt, ich kann darüber nicht reden, es tut mir so leid, Isa..." Das Mädchen runzelte die Stirn und sagte eine Zeit lang nichts. Sie überlegte, was das zu bedeuten hätte, dass Anna nicht darüber reden wollte, doch dann fuhr diese schon fort: „Jedenfalls bin ich hier, weil ich dir sagen möchte, dass... ich dich mehr liebe als alles andere auf dieser Welt... Du... bist das Beste, was mir je passiert ist und ich habe es aufgegeben... Ich will nicht, dass du mir noch eine Chance gibst, ich will auch nicht, dass du mir verzeihst...Ich musste dir nur einfach all das sagen. Für dich und für mich. Ich will eigentlich nur, dass du endlich dir selbst verzeihen kannst, dass das mit deinen Eltern so geendet hat. Dass du damit klarkommst und endlich stolz darauf bist, dass du lesbisch bist und von der Norm abweichst und dass du dein Leben lebst, wie du es für richtig hältst... Ich will nicht, dass du mich liebst, sondern dass dich die richtige Person auch so liebt, wie ich es immer noch tue. Du wirst immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben und ich werde nie ganz über dich hinwegkommen können, aber wenn du glücklich bist, bin ich es auch. Also triff bitte immer jene Entscheidungen, die du für richtig hältst, steh dazu und am allerwichtigsten: Steh zu dir und zu dem, was du bist." Isabella weinte jetzt wieder. Annas Worte rührten sie zutiefst. Niemals hätte sie gedacht, dass der Tag kommen würde, an dem sie sich einfach mal aussprechen könnten und niemals hätte sie auch nur zu träumen gewagt, dass Anna noch das Gleiche fühlte. Nach all dieser Zeit. „Was ist mit Bärtner? Ihr seid doch zusammen, oder?" Anna senkte den Blick und gab dann zu: „Ich denke schon... Er liebt mich auch, aber ich fühle überhaupt nichts für ihn... Ich wollte nur von dir loskommen... Und jetzt sitzt er daheim und wartet vermutlich darauf, dass ich heute noch vorbeikomme, aber..." „Aber das wird nicht passieren. Wahnsinn... Das hätte ich niemals gedacht... Also, dass du auch unter unserer Trennung, oder wie auch immer man das nennen will, gelitten hast..." Anna schaute ihr wiederungläubig in die Augen, verlor sich einige Sekunden im tiefen Grün und sagte dann: „Ich habe so ziemlich jede freie Minute, in der ich alleine war, weinend verbracht. Aber ich dachte, es sei es wert, wenn du dadurch glücklich sein könntest..." Isa schüttelte ungläubig den Kopf, presste wieder die Lippen aufeinander, doch dann sprudelte es nur so aus ihr heraus: „Glücklich bin ich nur mit dir. Ich habe versucht, dich zu erreichen, doch du hast dich einfach nie gemeldet... Ich war am Boden zerstört, hatte immer öfter Heulkrämpfe... Am Schluss war ich sogar wirklich wütend. Auf dich, aber mehr noch auf mich, denn ich hatte das alles zugelassen. Dich in mein Leben gelassen. Mit dir war ich der glücklichste Mensch der Welt, ohne dich der traurigste. Zwei Extrema, die man auf Dauer nicht überlebt... Und jetzt sitze ich hier und... habe dir schon längst verziehen! Du wolltest mir nie etwas Böses! Ich sitze hier und liebe dich mit jedem Atemzug. Mit jeder Zelle meines Körpers. Mit allem, was ich bin... Aber jetzt ist das hier mein Leben und du bist Lehrerin an der Schule, an die du immer wolltest, also verstehe ich nicht, warum du überhaupt hergekommen bist... Wir haben ja doch keine Zukunft, nicht mal, wenn wir beide die gleichen Gefühle füreinander haben. Wenn wir beide das wollten. Denn ich bin hier und du bist dort. Dazwischen liegt eine breite Schlucht..." Anna kämpfte wieder mit den Tränen. „Und ich habe diese Schlucht heute überwunden, um bei dir zu sein und vor allem deshalb, weil ich das alles einfach loswerden musste... Es war vielleicht eine Kurzschlussreaktion, sofort herzukommen, doch es war das Beste, was ich machen hätte können und ich habe dir ja gesagt, dass ich auf der Zugfahrt sieben Stunden Zeit gehabt habe, um nachzudenken... Du sagst, du liebst mich noch... Würdest du uns beiden nochmal eine Chance geben, wenn ich... auch hier wäre? Hier bei dir?" Isa schüttelte hastig den Kopf, so als wolle sie diesen Gedanken sofort wieder irgendwo einschließen. Sie wusste nicht, wozu es gut sein sollte, darüber nachzudenken, denn es schmerzte sie einfach nur, sich das auszumalen, ohne dass dies je eintreffen könnte. „Du weißt, dass ich das sofort tun würde, aber ich will gar nicht länger darüber nachdenken. Es tut mir leid, aber diese Vorstellung tut weh, weil sie niemals Realität werden kann..." Anna drehte sich nun ganz zum Mädchen, das sie liebte, nahm Isas Hände in ihre und fragte sie mit einem tiefen Blick in ihre, trotz der Strapazen, strahlenden Augen: „Was, wenn ich dir sage, dass ich mich hier in Florenz für eine Schule beworben habe, die eine österreichische Staatsschule ist und die dringend noch einen österreichischen Unterrichtspraktikanten oder eine Unterrichtspraktikantin sucht, weil sie eine gewisse Anzahl an Lehrerinnen und Lehrern jährlich ausbilden müssen?" Isabella traute ihren Ohren nicht. Sie starrte die Frau, für die sie noch immer so unglaublich stark empfand, erstaunt an. „Meinst du das gerade ernst?!" Anna lächelte nun und nickte und Isabella fiel ihr um den Hals. Sie drückte diese Frau fest an sich und atmete wieder diesen vertrauten Duft ein, dann löste sie sich von ihr und schaute ihr tief in die braunen Augen, in denen sie sich schon so oft verloren hatte: „Du würdest nur wegen mir wirklich alles zuhause aufgeben und hier nochmal... neu starten?" Anna nickte: „Ja. Ich finde es gut, dass du einen Neustart wolltest, aber ich wäre sehr gerne Teil davon... Wenn du das auch möchtest, versteht sich..." Isabella lachte und rief: „Natürlich möchte ich das auch! Ich liebe dich doch! Aber ich will, dass wir uns nichts mehr verschweigen... Ich kann nicht mehr in ewigem Grübeln leben... Das halte ich nicht aus. Ich wünsche mir nämlich wirklich eine Antwort auf eine Frage, die mich die letzten Monate über sehr beschäftigt hat... Dazu müsstest du aber über etwas aus deiner Vergangenheit sprechen, wovon ich weiß, dass du es meidest und wenn du das nicht willst, werde ich das auch akzeptieren... Aber du weißt, wie viel ich über alles nachdenke, wenn ich die Zeit dazu habe und ich muss das einfach wissen, weil..." Anna schien zu verstehen, seufzte und unterbrach Isabella dann: „Du willst endlich wissen, was zwischen mir und meinen Eltern vorgefallen ist, oder?" Isa nickte ein wenig beschämt, doch dann begann Anna zum wiederholten Male an diesem unwirklichen Abend zu sprechen: „Na gut... Früher oder später muss ich sowieso darüber reden, warum also nicht mit der Liebe meines Lebens? Ich möchte nämlich auch, dass wir uns nichts mehr verschweigen." Isa lächelte glücklich und lauschte dann weiter dieser Stimme, der sie ewig zuhören könnte. „Meine Eltern und ich hatten immer ein sehr inniges Verhältnis. Wir redeten über so ziemlich alles und wir fuhren jedes Jahr gemeinsam in den Urlaub. Meine kleine Schwester war damals zehn und ich war fünfzehn, als wir auf der Rückreise aus der... Toskana waren. Um genau zu sein auf der Rückreise aus Florenz... Ich begann mit meiner Schwester zu streiten und... dann passierte es. Mein Papa war von unserem Geschrei so abgelenkt, dass er die Kontrolle über das Auto verlor und... in die Tunnelwand krachte und...", Anna kämpfte erneut mit den Tränen, „und er und Mama waren sofort tot... Valerie wurde noch ins Krankenhaus gebracht, verstarb dort dann aber noch bevor ich mich bei ihr entschuldigen konnte... Das Letzte, das ich zu ihr gesagt habe, waren Vorwürfe und Beleidigungen... Dieser kleine Engel starb, bevor ich ihr noch sagen konnte, wie lieb ich sie eigentlich hatte und immer noch habe... Es war der traurigste, traumatischste Tag meines Lebens... Ich habe erkannt, dass ich Menschen, die Teil meines Lebens sind, schätzen soll. Es geht so schnell und alles ist aus. Und im Streit auseinanderzugehen ist grauenhaft, was ein weiterer Grund dafür war, heute in den Zug zu steigen und hierher zu kommen..." Isabella glaubte, im falschen Film zu sein. Sie weinte jetzt auch wieder und hatte sofort das Bedürfnis, Anna in den Arm zu nehmen. Diese schluchzte in ihr Shirt, doch das war dem Mädchen egal. Wichtig war nur, dass Anna sich wieder beruhigen würde. Sie hatte also etwas noch Schlimmeres erlebt, als sie selbst. Isa könnte mit ihren Eltern immerhin noch reden, wenn sie das wollen würde, aber Anna hatte diese Möglichkeit nicht mal mehr. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die Isabella zugegebenermaßen genoss, da sie die Nähe dieser Frau einfach spüren durfte, wurde Anna wieder ein wenig ruhiger und sprach dann weiter: „Es folgte eine schwere Zeit für mich... Ich hatte niemanden mehr, nur meine Großmutter, die dann nur zwei Monate später verstarb. Ich erbte viel, doch ich kannte mich nicht aus, konnte nicht allein überleben. Ich hatte keine Ahnung von Finanzen und dergleichen und so kam ich ins Internat, weil ich da zumindest verpflegt wurde. Ich begann zuerst, mich... zu ritzen und... trank Alkohol, weil es mir dann vorübergehend besser ging. Es nahm alles seinen Lauf und... ich traf meinen, nun ehemaligen, besten Freund, der kiffte... Naja, zuerst fing es auch bei mir damit an, doch dann besorgte er mir... härtere Drogen und irgendwann war ich dann... heroinabhängig. Ich fühlte mich einsam und dazu kam noch, dass ich mit meiner Sexualität nicht klarkam und meine Mutter nicht mehr hatte, mit der ich sonst über sowas geredet hätte... Die Lehrer merkten zwar irgendwann was, aber da war es schon zu spät. Mein bester Freund ging auch hier zur Schule und er, meine jetzt immer noch beste Freundin Franziska und ich machten alles gemeinsam. Er gab sich dann... mit 17 den goldenen Schuss und da hatte ich beschlossen, einen Entzug zu machen. Die Freundschaft zu Franzi litt nämlich auch unter unserer Abhängigkeit und bröckelte irgendwann, weil sie bewundernswerterweise nie mitmachte, wenn wir uns etwas reinzogen und sehr darunter litt, zusehen zu müssen, wie wir uns... vernichteten. Der Entzug war glücklicherweise erfolgreich und ich habe mir geschworen, nie wieder rückfällig zu werden. Meine Eltern wären verdammt enttäuscht und auch meine beste Freundin verliere ich nicht noch einmal..." Isabella stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Sie fand keine Worte, die das ausdrücken könnten, was sie jetzt gerade fühlte. Sie nahm nur Annas Hand und streichelte diese mit darauf fokussiertem Blick. Irgendwann rang sie sich dann aber doch dazu durch, etwas zu sagen: „Das tut mir alles so leid, Anna... Ich wusste ja nicht, dass es sich wirklich um so etwas Schlimmes handelt, sonst hätte ich nicht so nachgebohrt... Ich finde es aber sehr schön, dass du es mir jetzt erzählt hast, denn ich glaube, erst jetzt verstehe ich dich und was in dir vorgeht richtig... Jetzt kenne ich dich wirklich. Darf ich dich noch fragen, ob... du manchmal noch daran denkst... nun ja... wieder Drogen zu nehmen? Es ist ja sicher nicht leicht, ganz davon loszukommen..." Anna nickte vorsichtig und antwortete dann: „Ich finde es auch schön, dass ich mit dir darüber reden kann. Du gibst mir Kraft. Und um deine Frage zu beantworten, es gibt gelegentlich schlechte Tage, an denen ich mir eine Flucht in diese andere Welt wünsche, da fällt es mir verdammt schwer, stark zu bleiben, doch diese Tage sind glücklicherweise immer seltener geworden. Also der Entzug war definitiv auch auf lange Sicht erfolgreich. Ich hatte noch keinen einzigen Rückfall." Den letzten Satz verkündete sie stolz, was Isabella ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Sie war auch stolz auf diese Frau zu ihrer Rechten, die gerade ein wenig nervös mit einer ihrer Haarsträhnen spielte. Dann realisierte Isabella plötzlich etwas: „Hast du mir deshalb nicht geholfen, als ich meinen... Anfall hatte? Um nicht rückfällig zu werden?" Die Lehrerin nickte beschämt, doch Isabella konnte nicht anders, als sie nun zu küssen. Sie hatte ihr Vertrauen geschenkt und mit ihr über etwas geredet, über das sie mit niemandem sonst redete. Sie war über ihren Schatten gesprungen und war selbst an dieser Situation gewachsen und vor allem: Sie liebte Isabella und würde für sie nach Florenz ziehen! Langsam näherte sich das Mädchen ihrer großen Liebe. Sie war ein wenig unsicher, ob es für Anna in Ordnung wäre, wenn sie sie jetzt wirklich küsste, deshalb fragte sie vorsichtig: „Darf ich... dich küssen?" Anna strahlte übers ganze Gesicht und nickte sofort, dann legte sie auch schon ihre Lippen auf Isabellas. In diesem Kuss lag nun all die Verzweiflung, die Leidenschaft, das gesamte Gefühlschaos der letzten Monate und es tat gut, das alles einmal endgültig rauszulassen. Anna schien es auch so zu gehen, denn die lächelte jetzt in den Kuss hinein. Als sie sich wieder voneinander gelöst hatten, meinte sie dann: „Ich möchte dich jetzt offiziell fragen: Möchtest du mit mir zusammen sein?" Isabella konnte ihr Glück kaum fassen. Noch vorhin hatte sie geglaubt, Anna nie mehr wiederzusehen, sie aus ihrem Leben streichen und endlich über sie hinwegkommen zu müssen und jetzt saß sie hier, an der Seite dieser Frau in einer fremden Stadt und diese fragte sie tatsächlich, ob sie ihre Freundin sein wollte. „Ja, das will ich! Für immer, Anna... Ich liebe dich, das habe ich immer getan und das werde ich immer tun! Und ich lasse dich nie wieder gehen." Die Ältere lächelte und zog Isabella dann erneut in einen innigen Kuss.

Es waren nun sicher schon zwei Stunden vergangen, in denen die beiden Frauen einfach nur dagesessen, den Ausblick genossen und geredet hatten. Über wirklich Gott und die Welt und über Oberflächliches und Tiefgründigeres, aber vor allem immer noch über die vergangene Zeit. Isa hatte ihr genau geschildert, wie das mit ihren Eltern abgelaufen war und was für eine schwere Zeit für sie gefolgt war und Anna hatte zugehört und sie getröstet. Ihr versprochen, sie nie mehr allein zu lassen. Außerdem hatten sie über Isabellas ersten Schultag morgen gesprochen, der dem Mädchen ein mulmiges Gefühl bereitete, doch Anna hatte es geschafft, ihr auch das letztendlich zu nehmen und ihr im Gegenzug Zuversicht einzuflößen. Sie fühlte sich einfach sicher an der Seite ihrer nun ehemaligen Lehrerin und das Schönste war: Sie waren zusammen und sie durften es sein. Klar, das würde weitere Outings bedeuten, doch Isa hatte keine Angst mehr davor, denn solange Anna an ihrer Seite war, würde auch das gut werden. Außerdem hatte sie nun auch erkannt, dass sie niemanden in ihrem Leben brauchte, der diesen Aspekt an ihr nicht akzeptierte. Man brauchte nicht mal seine Eltern, wenn diese die eigene Entwicklung einschränkten. Es war nicht verwerflich, sich von ihnen abzuwenden und sich für ein erfülltes, glückliches Leben zu entscheiden, das man mit ihnen vielleicht nie leben hätte können. Es war nicht falsch, sich für sich selbst zu entscheiden. Für das Leben, das man leben möchte, denn man hatte immerhin nur eines. Es war nicht falsch, sich einzugestehen, dass man okay war, wie man war und dass es absolut okay und echt war, wie und was man fühlte.

Plötzlich tönte ein Piepsen durch die stille Nacht und Isa zog ihr Handy aus ihrer Hosentasche.

Hey... Ich verstehe jetzt endlich alles... Wenn ich nur gewusst hätte, dass Anna die Frau ist, an die du dein Herz verloren hast, hätte ich viel früher mit ihr geredet und ihr hättet viel früher wieder zueinandergefunden. Liebe ist schmerzhaft, aber wenn sie erwidert wird, kann man durch sie alles schaffen. Glaubt bitte nicht, ich würde euch beim Direktor verpetzten oder das irgendwem weitererzählen, das brächte sowieso nichts mehr, denn Anna hat ja schon gekündigt, was ich übrigens besonders schade finde, denn sie war meine absolute Lieblingskollegin und eine Bereicherung für diese Schule, aber ich sehe ein, dass sie endlich bei dir sein und vor allem legal mit dir zusammen sein will. Ich verurteile euch auch nicht dafür, kein bisschen, denn wo die Liebe hinfällt, kann niemand beeinflussen. Eigentlich sollte ich jetzt eine Moralpredigt halten von wegen „Lehrerin-Schülerin-Beziehungen sind verboten", aber das werdet ihr von mir nicht zu hören kriegen. Ich finde es stark, dass ihr es geschafft habt, das alles so lange geheim zu halten. Mein tiefster Respekt! Ihr seid zwei wunderbare Frauen. Ich mag euch beide sehr gerne und ich wünsche euch nur das Beste. Und ihr seid natürlich beide immer herzlich willkommen bei Felix und mir. Ich freue mich auch, dich wirklich in Sicherheit zu wissen an der Seite dieser Frau, Isa. Und eine Sache noch: Anna sollte das mit Bärtner vielleicht in Ordnung bringen, er macht sich nämlich Sorgen... Ach ja, meldet euch gelegentlich, okay? Und denkt daran: Durch Liebe kann so viel Gutes entstehen! Viel Glück euch beiden!

Die Frauen blickten sich an, lachten und Isabella war einfach nur erleichtert. Endlich konnte sie bei Danny auch hundertprozentig sie selbst sein und müsste ihr überhaupt nichts mehr verschweigen. Ihre Worte gaben ihr wirklich Kraft und sie freute sich, dass sie ihre Beziehung guthieß. Dass sie sie nicht schon früher darüber informiert hatte, bereute Isabella aber nicht, denn wäre es wirklich aufgeflogen, wäre Danny eingeweiht gewesen und hätte somit vermutlich auch Probleme bekommen und das hatte sie um jeden Preis vermeiden wollen.

Die beiden Frauen schwiegen mittlerweile wieder, nachdem sie diese Nachricht besprochen hatten und Isabella hatte ihren Kopf auf Annas Schulter abgelegt, die wiederum schützend und wärmend ihre Hand um ihre Freundin hielt. Der leichte Wind ließ die angenehm kühle Nachtluft noch erfrischender wirken und die beiden Frauen betrachteten gerade den Dom von Florenz, als Isabella sich aufrichtete und ihrer Freundin tief in die Augen schaute: „Anna Khom, ich liebe dich. Und ja, ich glaube an Schicksal."



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