Es hagelt. Es ist April und es hagelt seit einer halben Stunde. Laut klopft es gegen das kleine Fenster, als würde jemand reinkommen wollen in meine Welt. Doch da ich weiß, dass es nur die Natur ist, bin ich beruhigt. Ich würde sogar freiwillig da draußen stehen, nur um zu wissen, dass es kein Mensch ist. Denn ich hasse alle Menschen. Deshalb habe ich vor ein paar Jahren auch beschlossen, keine mehr zu treffen. Außer vielleicht mit Steinen, falls sie es wagen, mir zu nahe zu kommen. Aber hier, in einen der größten Wälder Schwedens, verirrt sich kaum einer. Die nächste Straße ist ewig weit entfernt, das nächste Dorf zig Kilometer. Und genau deshalb bin ich hier. Ich habe diesen Ort ebenso sorgsam ausgewählt wie ich meine Flucht geplant habe. Nicht, dass ich aus einem Gefängnis oder so geflohen wäre. Aus den Fängen der Gesellschaft trifft es wohl eher.
Mit einem letzten missmutigen Blick auf die Weltuntergangsstimmung da draußen wende ich mich ab und hoffe einfach, dass es bald vorbei ist. Eigentlich bin ich ein Freund von jeder Art Wetter, aber vor ein paar Tagen habe ich das erste Gemüse gepflanzt, und wenn das jetzt erfriert, bin ich in ein paar Wochen am Arsch. Die Regale im Schuppen, wo ich meine Einmachgläser verwahre, lichten sich nämlich langsam aber sicher. Und auf Kartoffeln mit... Kartoffeln, und das wochenlang, habe ich wirklich nicht so viel Lust.
Mein Blick fällt auf mein Manuskript. Obwohl ich die Utopie, in der mein Buch spielt, wirklich liebe, kann ich mich gerade nicht so ganz hineindenken. Zu laut ist die Realität in From des Hagels. Außerdem brauche ich dringend Bewegung. Eine Runde zu laufen, kann ich mir bei dem Wetter definitiv abschlagen, weshalb ich mir kurzerhand mein Shirt über den Kopf ziehe, meine Jogginghose gegen eine kurze Sporthose wechsel und eine dünne Korkmatte ausrolle. Mein übliches Workout kommt mir heute langweilig vor, weshalb ich den Schwierigkeitsgrad von ein paar Übungen oder die Anzahl der Wiederholungen erhöhe. Natürlich bin ich danach umso geschaffter, aber zufrieden. Mein Aussehen ist mir egal, da mich sowieso niemand sieht, aber ich mag es, fit zu sein. Das Gefühl, sportlich etwas leisten zu können, zeigt mir fast so sehr wie künstlerisches Schaffen, dass ich am Leben bin. Manchmal kommt mir mein Alltag so unwirklich vor, da es nichts gibt, was mich aus der Bahn wirft. Oft springe ich in solchen Situationen in den Fluss, der hinter meinem Grundstück liegt – egal, welche Jahreszeit. Danach bin ich mir dann immer ziemlich sicher, nicht zu träumen.
Okay, es ist nicht mein Grundstück. Genaugenommen ist es niemandes Grundstück, allerhöchstens vielleicht das des Staats. Aber da sich sowieso keiner für diese weiten Wälder interessiert und alles sich selbst überlassen wird, stört es niemanden. Allerdings weiß auch keiner von mir. Wahrscheinlich bin ich mittlerweile für tot erklärt – oder für dauervermisst, falls es so etwas gibt. Aber das ist mir mehr als recht. Ich würde wahrscheinlich jubeln, wenn ich herausfinden würde, dass ich aus sämtlichen Listen, Tabellen und Programmen gestrichen worden bin. So, als würde ich nicht mehr existieren. Und für diese Gesellschaft, die sich selbst das Leben mehr als schwer macht, tue ich das auch nicht mehr.
In der Küche habe ich mich schnell gewaschen und mir dann eine frische Boxershorts angezogen. Ein Badezimmer habe ich nicht, wer braucht so etwas auch? Mein selbstgebautes Plumpsklo ist draußen und waschen kann ich mich am Waschbecken, oder im Sommer im Fluss. Mir kommt es so vor, als wäre das Flusswasser sauberer und klarer als das Leitungswasser in Großstädten. Eigentlich hat die Fluss-Saison auch schon angefangen, aber bei Hagel wäre es vielleicht selbst für ein so abgehärteten Körper wie meinen zu kalt. Apropos Hagel. Ich richte meinen Blick aus dem Fenster, während ich mir meine Jogginghose wieder anziehe. Für ein Shirt ist es mir nach dem Sport gerade noch zu warm, das kann warten. Der Lautstärke nach zu urteilen, scheint es etwas besser geworden zu sein, doch da es langsam beginnt zu dämmern, können mir das meine Augen nicht so richtig bestätigen.
Ein lautes Klopfen reißt mich aus meinen Überlegungen, doch es klingt anders als der Hagel an meiner Fensterscheibe. Verwirrt bleibe ich mitten im Raum stehen. Tatsächlich wiederholt sich das Geräusch ein paar Sekunden später, und mein Gehirn will mir weismachen, dass es von der Tür kommt. Was soll das denn sein? Ein Wildschwein oder ein Reh? Vielleicht ein Rentier? Aber müssten die nicht mittlerweile weiter im Norden sein? Oder bleiben sie auch im Sommer hier im südlichen Mittelschweden?
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Waldgeflüster
Short StoryMatt hasst Menschen. Per trifft durch Zufall auf ihn. Eine Kurzgeschichte (mit unterschiedlich langen Kapiteln). Die Rechte liegen allein bei mir!