An diesem Abend begegnete Maève zum ersten Mal ihrem Tod.
Sie war dabei gewesen, mit ihrer Mutter gemeinsam den Tisch zu decken, als es geklingelt hatte. „Bonsoir, mein Name ist Bo", hatte es aus der Gegensprechanlage gegurrt mit einer hellen, weichen Stimme, die sich sofort in ihr Gehirn schnitt. „Mein Hund hat sich vorhin Scherben in den Fuss getreten. Können Sie uns helfen?"
Die Entscheidung fällte ihre Mutter sogleich alleine: Sie mochte Hunde und war eine sehr hilfsbereite Frau, also kam der Tod kurz darauf in den zweiten Stock gepoltert, grinsend, höflich und mit ungewaschenen Haaren. Sein Hund hatte Ähnlichkeit mit einem gelbgrauen Wolf. Sie verteilten Schnee in der kleinen, niedrigen Wohnung mit den dunklen Holzmöbeln und den Zimtstangen vor den Fenstern. -
Jetzt hatte Maève schlechte Laune. Warum musste ihre Mutter sich immer über sie hinwegsetzen? Dann hiess es, chérie, sei doch nicht immer so misstrauisch, die Leute beissen doch nicht, wir machen das jetzt einfach. Und sie wurde gezerrt auf Kindergeburtstage, ins Restaurant, auf Veranstaltungen. Oder die Leute wurden zu ihnen eingeladen, chérie, wenn dir das nicht passt, kannst du auch in dein Zimmer. Oder bring doch gleich selbst mal wen mit. Das ging bloss nicht so leicht. Ihre Mutter hatte keine Ahnung und darum war Maève ebenfalls in der Küche, kauerte am Tisch, kritzelte auf einem Blatt herum, um sich nicht am Gespräch beteiligen zu müssen. Sie konnte sich nicht in ihrem Zimmer entspannen, wenn Leute im Nebenraum waren, die sie weder kannte noch einschätzen konnte. Sie konnte das nicht.
Der Fremde auf dem Boden quatschte fröhlich mit ihrer Mutter, während diese Glasscherben aus der Pfote des Hundes zog. Trotz gutem Zureden zappelte und jaulte das Tier empört. Maève hätte schwören können, dass es sein Herrchen vorwurfsvoll anfunkelte.
Bo, so hatte der sich vorgestellt. Und dann diese Sätze, die sich anhörten, als hätte er sie bereits einige Male aufgesagt. Mit dem Rücken zu Maève sass er, sodass sie nur die zerzausten Haare sehen konnte, die in dicken Strähnen bis zur Hälfte der Oberarme quollen. Bei dem Volumen versteckte er wahrscheinlich etwas darunter. Den Hund hatte er zu seiner rechten, einen monströsen Rucksack zu seiner linken. Seine Kleidung: Schwarz. Er trug eine Cargohose, in deren Taschen man bestimmt unschuldige kleine Welpen über Grenzen schmuggeln konnte, und einen Hoodie, von dessen Rückseite ein Sensenmann grinsend den Finger erhob. Seine klobigen Schnürstiefel sahen aus, als würde er damit auf Finger treten.
Ihre Mutter verliess den Raum. Der Fremde drehte sich zu Maève um. „Zeichnest du viel, ja?"
„Nein", schnappte Maève sofort. Ansonsten hätte sie ja wohl zeichnen können. Die Konversation war ihr ein bisschen zu plötzlich, also radierte sie irgendwas auf ihrem Blatt herum, fegte ein paar Gummikrümel von ihrer Jogginghose und tat schwerstens beschäftigt.
Der Fremde grinste sie vom Boden aus an, Oberkörper halb gedreht, auf eine Hand gestützt. Zwischen der Farbe seiner Kleidung und dem dunklen Ton seiner Haare sah er beunruhigend bleich aus. Maève konnte nicht einmal benennen, was sie daran irritierte. „Ich hab es eine Zeit lang versucht, aber meine Feinmotorik ist viel zu schlecht."
„Hm", machte Maève und starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Sein Gesicht war rundlich, fast kindlich, mit einer lächerlich konkaven Nase und dicken, kantigen Brauen. Als hätte jemand versucht, mit Edding einen Akzent über seine Augen zu setzen, der von der Nase ablenkte. Die Haare wucherten nicht nur von seinem Hinterkopf aus in sämtliche Richtungen, sie hingen ihm auch noch ins Gesicht. Seine Augen waren hell, aber sie hielten nicht lange genug Blickkontakt, als dass Maève die Farbe hätte herausfinden können. Nicht, dass es sie interessierte. Nein.
Maèves Stift torkelte benommen über das Blatt. Sie war sich ziemlich sicher zu wissen, was der Fremde dachte. 'Diese hochnäsige Asiatin', dachte er. 'Guckt so verbissen und hält sich für was Besseres.' So hatte sie schon jemanden über sich reden gehört, also musste das der Eindruck sein, den sie hinterliess. Der Gedanke machte ihr Angst. Was hätte sie aber tun sollen? Eben. Auch, wenn „Asiatin" viel zu allgemein war; ihre Grossmutter war Mongolin. Maève kam ziemlich nach ihr, breites Gesicht, heller, bräunlicher Teint, schmale, dunkle Augen. Das Einzige, was sie von ihrer Oma unterschied, waren die grosse, leicht gewölbte Nase ihrer Mutter und dass ihre Haare nicht schwarz, sondern braun waren. Ihre Haare übrigens; die lagen ihr auf dem Papier im Weg und rutschten immer wieder dorthin, egal, wie oft sie sie hinter's Ohr strich.
Der Fremde hatte wohl aber nicht vor, sie in Ruhe zu lassen. Seine Kommunikationsfreudigkeit kam ihr vor wie bei einem grotesk verwilderten Haustier, das sich plötzlich seiner Wurzel bei den Menschen besonnen hatte und jetzt eifrig um Futter und Streicheleinheiten bettelte. „Gehört deiner Familie die Fahrradwerkstatt im Erdgeschoss? Da steht der gleiche Nachname wie auf eurem Klingelschild."
„Ja."
Das Gespräch versackte wieder. Ihr Gegenüber hatte einen Akzent, den sie nicht zuordnen konnte. Es interessierte sie allerdings nicht weiter. Sie wollte es nicht wissen, nein, am liebsten wollte sie so wenig wie möglich über ihn wissen.
Ihre Mutter kam mit Verband für die Hundepfote wieder, Bo wurde die Adresse eines Tierarztes aufgequatscht, eine Kanne Tee materialisierte sich auf dem Tisch. Maève wartete darauf, dass ihr Vater heimkam, aber entweder nahm er es gemütlich oder die Zeit lief heute Abend anders.
„Ich danke Ihnen vielmals", schwor Bo zum Schluss, so ausgiebig, dass Maève nicht sicher war, ob er es ernst meinte. Ihre Mutter jedenfalls schien es zu glauben. Was auch sonst.
Im Treppenhaus warf der Dunkelhaarige noch einen Blick über die Schulter. Fast fürchtete Maève, er wollte wieder reinkommen. „Vielleicht sehen wir uns wieder." Er grinste.
Maèves Mutter erwiderte irgendeine Abschiedsfloskel und streichelte noch einmal den Hund - der nach wie vor nicht begeistert aussah -, dann waren die Besucher weg.
Sie schlossen die Tür.
„Ich hätte ihm etwas zu essen mitgeben sollen", stellte ihre Mutter fest. „Er sah irgendwie hungrig aus, nicht?"
„Hm", machte Maève und runzelte die Stirn.
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Siebeneinhalb Dämonen
Fantasy"Die Nashornentführung hätte man sich, ähm, hätte man sich sparen können." - Rasputin "Ich würde ja etwas von wegen "feingeistiges Porträt sympathisch verschrobener Charaktere" erzählen, nur ich finde die anderen weder alle sympathisch noch jedwedes...