6. Diese verfluchten Zettel

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Draussen ging die Sonne unter, schien durch die Fenster und liess das Innere der katholischen Kirche von Gaulewin aussehen, als würde es brennen, wenn auch auf eine goldene, nostalgisch verklärte Art. Staub tanzte in der Luft, hinterliess überall Fussspuren in Form eines muffigen Geruchs. Links vom Eingang summte ein uralter Radiator auf Rollen verzweifelt gegen die Kälte an. Als ob so ein kleines Ding so viel leere Luft aufwärmen könnte. Man hätte es gleich mit Kerzen versuchen und obendrein Strom sparen können. Gleichzeitig waren solche nutzlosen Massnahmen so typisch für diesen Ort, dass Dunkelgold ein Lächeln über das Gesicht huschte. Er blieb stehen und trat sich die Schneereste von den Schuhen. Hinter ihm fiel die Eingangstür zu. Früher hatte es an der Stelle nach Knoblauch und Zwiebeln gestunken. Mit dem Gemüse wollte der damalige Küster die Untoten fernhalten, doch jetzt, da er weg war, liefen genau diese hier herum. Nur der übliche, muffige Kirchengeruch blieb als letzter Protest.

Zwischen den Bankreihen entlang hielt Dunkelgold auf seinen üblichen Platz zu, seine Schritte ein leises Klacken. Irgendwo hustete jemand. Das Geräusch rannte durch den Raum und klatschte gegen einen der steinernen, graubraunen Pfeiler, die das Mittel- von den Seitenschiffen trennten.

Dunkelgold zog die Augenbrauen hoch, als er auf Höhe besagten üblichen Sitzplatzes ankam und einen Mann entdeckte, der zwei Reihen weiter vorne hockte und seinen Gedanken nach versuchte zu beten. Mit Betonung auf „versuchte". ‚Vater unser im... Himmel. Geheiligt werde dein, äh... dein.. Sohn. Dein Wasauchimmer, äh, gehe und...' Kurz war er versucht, dazwischen zu quatschen und sich als Gottheit auszugeben, die sehr enttäuscht von diesem Stummel eines Gebets war. Allerdings wollte er nicht den Eindruck vermitteln, an diesem Ort liesse sich Erleuchtung finden. So etwas wie Erleuchtung gab es nicht, denn es hätte bedeutet, dass einem Fähigkeiten und Erkenntnisse einfach hinterhergeworfen wurden, wenn ein höheres Wesen gerade Gefallen daran fand. Und das war Blödsinn.
„Hier ist kein Gott."
Der Mann zuckte herum und glotzte ihn über die Bänke hinweg an.
„Hier ist kein Gott", wiederholte Dunkelgold und setzte sich. Das Holz war kalt und hart. „Du kennst die Marienstatue?" Er deutete grob in die entsprechende Richtung. Da stand sie, rechts vom Chor. Jemand hatte ihr die Hände abgesägt und an einer Plastikschnur um ihren Hals gehängt, vor vielleicht fünf Jahren. Bedauerlicherweise hatte sich niemand so darüber aufgeregt, dass er es mitbekommen hätte. Mittlerweile waren die Hände wieder angebracht, aber ihre Narben waren deutlich zu sehen, wenn man nah genug heranging.

Sein Gegenüber zog die Nase so hoch, dass man fast hineingucken konnte, und platzierte einen Unterarm auf der Rückenlehne. „Meine Mutter hat mich katholisch erzogn. Aber wohl nich so erfolgreich." Er hätte gut in einen Katalog für altmodische, elitäre Herrenmode gepasst: Weisses Hemd, schwarze Weste, grauer Mantel mit umgeschlagenem Kragen. Von seinem Kopf standen wuschelige kurze Haare ab, die ihm teilweise in die Augen hingen, und er trug einen Backenbart. Dunkelgold bezweifelte allerdings, dass sie bei einem solchen Katalog Leute mit dunkelgrünen Haaren nahmen. Sein Gesicht war auch ein wenig zu grob, die Nase etwas zu schief, um wirklich gutaussehend zu sein. Scharfe, dünne Linien zeichneten seinen Nasenrücken und den breiten Mund, während sich die Brauen über seine Augen wölbten, als müssten sie ein Gewitter abhalten.

„Ich hab vergessen, wie beten geht", fügte der Grünhaarige an, als Dunkelgold ihn schon ausblenden wollte. „Immerhin, wenn hier kein Gott is, kanner das ja nich merkn." Er klang fasziniert von seiner Entdeckung. Wie schön für ihn. Seiner Aussprache zufolge war er nicht besonders nüchtern.

Dunkelgold lehnte sich zurück, bis er an die Decke sehen konnte. Sie bestand mehrheitlich aus dunkelbraunen Hozbalken. Er war hierher gekommen, wie sonst auch, um über eine These oder etwas nachzudenken, von dem er letztens gelesen hatte. Die Stille hier eignete sich hervorragend dafür. Wie er jetzt feststellte, hatte er aber keine Lust, sich mit Freuds Kastrationsängsten zu beschäftigen. Ein Thema, das er schon länger vor sich her schob – sicher, da könnte eine interessante Dynamik dahinter stecken, aber gleichzeitig ging ihm Freud damit ziemlich auf die Nerven. Solange der Grünhaarige keine interessante Entdeckung bot, war er jetzt komplett umsonst hergekommen.

Siebeneinhalb DämonenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt