4. Rasputins Zombieproblem

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„Ist das Nashorn stubenrein?"

Sie standen an der Tür der städtischen Bibliothek. Sie befand sich in einem altmodischen, herrschaftlichen Haus am Ortsrand, das aussah wie die schmutziggraue Jungvogelvariante einer schneeweissen Villa, schon fast flügge. Jemand aber hatte es davon abgehalten, endlich erwachsen zu werden und sich zu befreien, wegzufliegen. Etwas oberhalb von Gaulewin klebte das Haus am Hügel, drumherum hohe, dunkelgrüne Nadelbäume, die Rasputin nicht bestimmen konnte. Die Gegend war typisch für die Vogesen: Ein Auf und Ab bewaldeter Hügel und Täler, und in einem der Täler lag Gaulewin wie eine hingeworfene Sammlung aus Spielzeugen. Einige Kinder mit seltsam geformten Kisten gingen an ihnen vorbei. Schnee knirschte. Ein Schild sagte: Musikschule, 1. Stock. Bibliothek, Erdgeschoss.

'Ich bin äusserst stubenrein', bemerkte Pondus in Rasputins Gedanken. Mittlerweile hatte er seine andere Form angenommen: Ein ausgewachsenes, oranges Breitmaulnashorn. 'Niemand kann sich den Arsch so gut zukneifen wie ich.'

'... cool', antwortete Rasputin in einem etwas lahmen Tonfall, bevor er sich wieder der Frau zuwandte, die gefragt hatte. Es war etwas ungewohnt, Pondus gedanklich zu antworten, aber noch seltsamer wäre es gewesen, Selbstgespräche zu führen, wenn jemand anderes direkt daneben stand. „Äh, ja. Er, ähm, ist stubenrein." Er drückte den Impuls weg, an seinen Haaren zu zupfen.

„Wir hatten mal eine Kuh da, die hat überall hingemacht, darum frag ich." Sein Gegenüber lächelte. Jedenfalls glaubte er das, nachdem er kurz einen Blick in ihr Gesicht geworfen hatte – kalkweiss, vielleicht benutzte sie dafür Schminke - und jetzt wieder angestrengt an ihrer Schulter vorbeistarrte. Ihre Bluse war dunkelrot. „Ich fürchte aber, dass dein Nashorn sowieso zu gross ist, um durch die Tür zu passen."

Rasputin nickte. Natürlich. Hätte er eigentlich wissen müssen.

'Bevor du fragst: Ich freue mich gerade, dass ich laufen kann, also möchte ich jetzt nicht in meine Holzform. Geh ruhig rein', sagte Pondus. 'Ich warte hier.'

Drinnen war es nicht so warm wie im Gebäude der Association du Chat Noir, aber aushaltbar. Hohe, weisse Wände, dunkle Regale. Es roch nach Büchern, eine angenehme Abwechslung zum Mief des Massenlagers, von dem Rasputin nach einer halben Stunde die Kopfschmerzen seines Lebens bekommen hatte.

Anise, wie sie sich vorgestellt hatte, lief vor ihm her. Ihr Hinterkopf war tiefschwarz und sehr fluffig frisiert. Dumpfe Schritte auf Teppich, unterschwelliges, leises Gemurmel und Geraschel von allen Seiten. Gekonnt fädelte sie sich zwischen den Regalen hindurch, die kreuz und quer in den Raum gestellt waren, und den dunkelgrünen Metalltischen mit passenden Stühlen. Die meisten davon waren unbesetzt.

Was er suche, hatte Anise gefragt und auf sein dummes Gestotter über plötzliche Zwiebelunverträglichkeit und körperliche Veränderungen keinen Kommentar zur Pubertät gebracht, sondern gelächelt und gemeint, das klinge nach Symptomen eines Wiedergängers. Eigentlich erstaunlich, dass sie mit diesen Informationen bereits etwas anfangen konnte – er hatte nichts davon erzählt, wie ihn manchmal das Bedürfnis überkam, sein Eigentum an sein Gesicht zu pressen, als wollte er es wie ein Kater markieren, oder davon, dass er nur noch zum Pinkeln auf Klo musste und regelmässig etwas Gewölleartiges hochwürgte. Er wagte gar nicht, daran zu denken, wie ungezähmt seine Haare wuchsen, ganz zu schweigen vom Grollen, das aus seiner Kehle klettern wollte, sobald er angespannt war. Und erst seine Zähne. Von aussen sahen sie normal aus, ganz harmlos – aber hinter den Eckzähnen waren jetzt Klappzähne, oben zwei lange, schmale und unten zwei kurze. Rasputin besass nicht die geringste Ahnung, wofür die gut sein sollten. Oft taten auch seine Zeigefinger weh und es schien, als wollten sichaus ihren Nägeln Krallen bilden. Eine Heidenangst jagte es ihm ein, dass er an diesem einen Nachmittag einen Filmriss gehabt hatte und seitdem gefühlt alles an ihm verrücktspielte. Und trotzdem sagte Anise: Wiedergänger. Angesichts dieses Begriffes fragte Rasputin sich mit trockener Zunge, ob das nur eine Beschönigung für "Zombie" war. Die Vorstellung, dass er eines Tages halb verwest irgendwo herumkriechen könnte, nachdem er seinen Verstand verloren hatte – Hilfe, er wollte kein Zombie sein. Rückblickend wäre weniger "The Walking Dead" keine schlechte Idee gewesen.

„Bitte", sagte Anise und blieb vor einem Regal stehen. Es war grösser als sie und recht weit hinten in einer Ecke der Bibliothek. Hier war niemand, nur einer dieser Metalltische. „Wenn du was brauchst, sag Bescheid, ich bin vorne. Ich kann dir diese Werke empfehlen", Hinweis mit der Hand auf die entsprechenden Bücher, "die sind recht einfach und doch informativ. Okay?"

Nein, eigentlich nicht, aber er nickte. Hätte sich am liebsten auf die Knie geworfen und gerufen, dass sie ihn bloss nicht mit dem Wissen in diesen Büchern allein lassen solle. Ein grosser Teil von ihm wollte plötzlich nicht mehr wissen, was mit ihm los war. Nur, das kam leider nicht in Frage. Mit dem sich auf die Knie werfen - das Zombieproblem vielleicht eher. Die Regale beugten sich lachend über ihn, als er spitzfingrig nach einigen Büchern griff und sie an den Tisch transportierte. Glaubst du, kleiner Rasputin, dass jemand die Nerven für deine Probleme hat? –

Ungezählte Seiten und ein unabsichtliches Nickerchen später hatte Rasputin eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht war: Kein Zombie. Wiedergänger zu sein bedeutete nicht, seinen Willen zu verlieren und zu einem laufenden Stück Gammelfleisch zu werden. Lediglich, dass man von irgendetwas oder irgendjemandem gebissen worden war und fortan ein Mischding zwischen von Geburt an Übernatürlichen und Untoten darstellte – was bereits seltsam genug klang. Auf Vorneländisch - einer Sprache, von der Rasputin noch nie gehört hatte - hiessen Untote „rhysztcym", chüst-küm. Wiedergänger nannte man „anrhysztcym", an-chüst-küm. Das hatte sich in sein Gehirn gestanzt, weil Anrhysztcym übersetzt in etwa „Untote light" bedeutete. Irgendwie lustig, nur, ob es etwas zum Lachen war, das zu beurteilen traute er sich nicht. Es war zu bezweifeln. Die wichtigsten Seiten besass er jetzt jedenfalls als Kopien, konnte er also alles jederzeit nachschlagen. Sie lauerten ordentlich sortiert in seinem Rucksack, gehalten von einer hellblauen Büroklammer. Aber etwas Positives hatte die Sache: Unter Übernatürlichen waren magische Fähigkeiten verbreitet. Tatsächliche, echte, krasse Fähigkeiten: An Wänden laufen, Leute austrocknen, Gase erzeugen – und die Rede war nicht von Furzgasen. Er musste unbedingt herausfinden, ob er etwas davon konnte.

Rasputin hüpfte die Stufen auf die Strasse hinunter, rief halblaut: „Pondus!" Nichts passierte. Vielleicht hörte er ihn nicht. „Pondus!"

Er lief über denSchnee, rief, marschierte auf den Rand des Platzes zu und umrundete ein paarBäume. Rasputin ging ein Stück die Strasse hoch, ein Stück die Strasse runter.Kalter Wind fegte hinter ihm her. Er rief nach Pondus. Wieder zum Platz vor derBibliothek, der dort wie ein leeres, weisses Loch lag. Einmal um dieBibliothek. Die Strasse hoch, die Strasse runter, unter dem irritiertenblassblauen Himmel hinweg, um ein paar Bäume, die Strasse hoch, die Strasserunter. Keine Antwort, kein oranges Aufblitzen, nichts. Rasputin blieb amStrassenrand stehen, schwitzend, wischte sich die Hände an der Jacke ab. SeinPuls hämmerte in seiner Kehle. Er wollte sich wimmernd ganz kleinzusammenkrümeln. Das war die schlechte Nachricht: Pondus - weg.

Siebeneinhalb DämonenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt