Das Unheil begann direkt hinter der Haustür: Irgendjemand hatte einen Karton in den Flur gestellt und zwei Paar von Maèves Schuhen sowie eine ihrer Jacke hineingeworfen. Es sah aus, als sollte ausgemistet werden.
Maève setzte einen Fuss vor den anderen. Sie musste sich beherrschen, auch wenn sie am liebsten hereingestürmt wäre, schreiend, was das hier gefälligst solle. Alles fühlte sich anders an: Das Familienfoto an der Wand, die hellen Holzbohlen, über die sie lief, das Licht. Wahrscheinlich drehte ihr Verstand ein bisschen durch, es war wohl kaum möglich, dass sich etwas änderte und dabei nichts verändert aussah. Abgesehen von dem ominösen Karton im Flur.
„Bin wieder da", rief sie, was man halt so rief, wenn man zur Tür hineinging. Ihre Stimme klang heiserer als sonst. Wo waren ihre Eltern? Geräusche aus dem Wohnzimmer. Also dort. Maève steuerte um die Ecke – die Wand unter ihren Fingern fühlte sich viel zu nachgiebig an -, da, auf dem Sofa: Ihre Eltern, zusammengeknüllt wie zwei Handtücher. Ihrer Mutter hing das braune Haare wie Unkraut vom Kopf und sogar die weisse Stirnlocke ihres Vaters wirkte erschöpft. Sie versuchten offensichtlich, sich zu unterhalten, ein fahriges Lächeln hier und da. Eine Teekanne und zwei Tassen gegen die Kälte.
„Papa. Maman", sagte Maève mit einem nachdrücklichen Unterton, der ergänzte: Kann mir jemand bitte sofort sagen, was hier los ist? Ihre Eltern ignorierten sie einfach, flüsterten weiter. Dann halt nicht. Die Erkenntnis grüsste von einem der zahlreichen Papierblätter aus, welche auf dem Wohnzimmertisch lagen. Maève beugte sich vor und las. Es war die Skizze einer Todesanzeige. Beerdigt wurde Maève Saruul Spielvogel. -
In den nächsten zwei Stunden – vielleicht auch drei oder vier – hockte sie in ihrem Zimmer, eine Hand im flauschigen Teppich vergraben, und heulte sich die Augen aus dem Kopf. Erst diese Kopie von ihr, dann ignorierten ihre Eltern sie und nun das. Was, wenn man sie wirklich in den Sarg - sie hätte ersticken müssen, lebendig begraben worden, lebendig. Keine Zimtstangen mehr vor dem Fenster. Und ihr Cousin würde niemandem weiter überzählige CDs vererben können. Der schiere Gedanke schnürte ihren Brustkorb zu wie eine stählerne Schlinge, bis ihre Rippen brachen, auf dass die Dunkelheit von den Aussenrändern ihres Sichtfeldes hereinsickerte und es nach kalter Erde zu riechen begann. Ein Seidenkissen für ihren leeren Schädel, Blumen. Für Maève, unsere Tochter, Nichte, möge sie in Frieden ruhen. Ein Dach über ihrem Kopf, ja, aber was für eins, ein Holzdeckel. Sag tschüss, Maève. Tschüss. War nett mit dir, oder auch nicht. –
Das Knarren der Dielen brachte sie in die Gegenwart zurück.
Maève riss den Kopf hoch, rief automatisch: „Jetzt nicht, bin beschäftigt!" Natürlich wurde nicht darauf gehört. Sie rieb sich hastig über die vom Tränensalz juckenden Wangen und fuhr sich durch die Haare, funkelte ihre Mutter böse an, als diese im Türrahmen auftauchte.
Anstatt ihr jedoch wie üblich zu sagen, dass sie nicht so schlecht gelaunt sein solle, stiess ihre Mutter einen Kreischer aus.
Maève riss die Augen auf. Wofür zum Henker war das jetzt?
Maman atmete zwei-, dreimal gefasst, griff nach ihrem Herz, verzog das Gesicht. Neigte den Kopf zur offenen Tür hinter ihr, ohne dort hinzusehen. „Ich dachte gerade, sie sitzt da auf dem Teppich." Ihre Stimme war sehr leise.
Der Flur spuckte Maèves Vater aus, der sofort die Arme um seine Frau schlang. Er murmelte etwas, küsste sie sacht auf die Schläfe. Normalerweise hätte Maève sich über dieses Pärchenverhalten beschwert. Jetzt starrte sie nur fassungslos. Die Augen ihres Vaters sahen aus, als hätte er fünf Tage geheult. Was sollte sie damit anfangen? Ein Knall wäre gut, vielleicht etwas, das auf den Boden fiel, ein Geräusch, das diese absurde Situation zersplittern liess. Sie musste ja fast davon ausgehen, in irgendeine obskure Sache geraten zu sein, die mit Geistern oder dergleichen zu tun hatte – wenn so getan wurde, als wäre sie nicht da. Sachliche Erklärungen wusste sie keine mehr. Wenn jemand das Recht hatte, auszuticken, dann ja wohl sie. Mit ein bisschen mehr Fantasie hätte sie den Sargdeckel hören können, wie er sich schloss. -
DU LIEST GERADE
Siebeneinhalb Dämonen
Fantasia"Die Nashornentführung hätte man sich, ähm, hätte man sich sparen können." - Rasputin "Ich würde ja etwas von wegen "feingeistiges Porträt sympathisch verschrobener Charaktere" erzählen, nur ich finde die anderen weder alle sympathisch noch jedwedes...