12. Aufhocker

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Maève hatte die gaulewinsche Bibliothek nie gemocht. Sie war bis zu einem gewissen Grad eindrucksvoll, ja, altmodisch, verwinkelt und bestimmt das reinste Paradies für Bücherwürmer. Nur gehörte sie nicht zu diesen Leuten - am liebsten hätte sie demonstrativ sämtliche Bücher auf dem Boden verteilt oder falsch ins Regal gestellt. Werkstätte waren ihr lieber. Dreckig vielleicht, aber begreifbarer als diese Millionen von Gedanken toter Leute: Sie boten etwas, das man anfassen konnte, drehen und auseinanderbauen. Entsprechend schlich Maève hinter Rasputin her, durch die schmalen Gänge zwischen den Regalen, und gab ihr Bestes, nicht da zu sein. Eigentlich unnötig, beachtet wurden sie nämlich von keinem. Maève wusste nicht, wie voll es normalerweise hier war, es kam ihr aber vor, als sei heute ein bevölkerter Tag: In fast jeder Ecke schien eine Person zu stehen, die sich durch Papier wühlte, ausschliesslich mit sich selbst beschäftigt.

„Wie sieht sie nochmal aus?" Maève bemühte sich, leise zu sprechen, auch wenn der Drang, die Worte zu brüllen, ausgesprochen gross war. War er an so ruhigen Orten schon immer gewesen. Nachdem Dunkelgold oder Chexton bis zum Mittag nicht aufgetaucht und Čert immer noch nicht aufgewacht war, hatten Rasputin und Maève sich zusammengetan, um wenigstens eine weitere Person um Hilfe zu fragen: Rasputins einzige Bekanntschaft an diesem Ort, Anise. Hoffentlich mit Erfolg. Maève hatte nicht die geringste Ahnung, wie man mit Entführungen umging. Und Rasputin, soweit sie wusste, auch nicht.

Rasputin lugte um eine Ecke. So unausgeschlafen sah er aus, wie Maève sich fühlte: Augenringe, ein bisschen blass im Gesicht, dauernd ein Gähnen unterdrückend. Zu Hause zu übernachten, das hatte sie ja versucht: Sich in ihr Bett gelegt, herumgewälzt und vor dem geschlossenen Fenster gefürchtet, obwohl das total irrational war. Čert würde schliesslich nicht ein zweites Mal so auftauchen. Und wofür auch? Das wäre sinnlos. Eben. Dann hatte sich die Vorstellung ihrer eigenen Todesanzeige in ihr Gehirn gegraben, um es auszuhöhlen und sich darin einzunisten. Am Ende war sie irgendwann aus dem Bett gesprungen und in der tiefsten Dunkelheit durch den ganzen Ort geflüchtet. Es war ja nur für diese Nacht. Sie war einfach noch nicht bereit, wieder zu Hause zu schlafen. Deswegen war es auch nicht komisch, dass sie sich in einem fremden Bett sicherer fühlte, das auch noch näher an Bo stand, als in ihrem eigenen.

Doch, es war verdammt komisch.

Aber sie konnte es nicht ändern, und dieser Teil war noch viel gruseliger.

„Sie ist mittelgross, mit schwarzen Haaren, äh... oh", plötzlich zuckte Rasputin zurück, als wollte er nicht gesehen werden. „Hab sie."

Maève lehnte sich um die Ecke, um einen Blick zu erhaschen. Die Buchrücken unter ihrer Hand fühlten sich rau und warm an. Sie wusste genau, was sie jetzt sagen musste. "Also, willst du sie ansprechen...? Oder soll ich?"


Irgendjemand hinter ihr machte „Psst! Psssst!", aber da das in einer Bibliothek häufiger passierte, drehte Anise sich nicht um.

„Ja, ich habe das Buch selbst gelesen, es ist wirklich fantastisch", sie lächelte die Dame an und bemühte sich, begeistert zu klingen. Sie war nicht begeistert. Das Buch war grauenhaft, eines dieser seelenlos zusammengeklatschten Schreckgestalten, wie man sie in Supermärkten kaufen konnte. Aber die Dame vor ihr schwärmte so sehr dafür, dass es Anise überhaupt nicht in den Sinn kam, etwas anderes zu behaupten. Diese Anekdote würde sie heute Abend erzählen, fraglich war nur, wem – wahrscheinlich wieder der Zimmerpflanze. Eine Katze war leider zu teuer. Aber ihre Aloe Vera freute sich bestimmt über die Zuwendung.

Hinter ihnen klatschte ein Buch lautstark auf den Boden.

„Entschuldigen Sie mich einen Moment", Anise verschenkte ein letztes Lächeln und lief dann schnurstracks in die Richtung, aus der der Buchschänder-Laut gekommen war. Hoffentlich war das nicht wieder so ein anstrengender, kackdreister Fünftklässler. Sie bog ausser Sichtweite der Kundin und hob eine Augenbraue – Rasputin...? So hiess er doch. Vielleicht wollte er noch einmal etwas nachschlagen. Gott sei Dank kein Fünftklässler. Wobei Anise sich fragte, was Rasputin in der Abteilung für Diätkochbücher machte. Noch dazu die, welche sich, mit böser Zunge gesprochen, an verzweifelte Frauen in den Mittvierzigern richteten – und Rasputin war definitiv keine Frau in den Mittvierzigern. Verzweifelt sah er allerdings schon aus, geduckt und mit weit aufgerissenen Augen.

Siebeneinhalb DämonenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt