Vom morgendlichen Schnee war kaum etwas übrig. Es blieb glänzender Matsch, der langsam die Asphaltstrasse hinunterkroch, Spuren wie Tränen hinterlassend. Die Sonne glühte so heftig, als wolle sie einen erblinden lassen. Dunkelgold traute es ihr auf jedenfall zu.
Er stapfte dem Haus von gestern entgegen, um Chexton zu zitieren: Dem "Arsch der Stadt". Der Matsch unter seinen Schuhen schmatzte, während die Sonne seine Schultern nach unten drücken wollte. Ein eiskalter Wind von vorne versuchte, ihn auszuhöhlen, schabte über seine Wangen und Ohren und zerrte an seinem blauen Trenchcoat. Auf der linken Strassenseite reihten sich Einfamilienhäuser mit charakterloser Gartendekoration aneinander, eine Reihe von Soldaten, die allesamt aussahen, als wollten sie jeden Moment desertieren.
Es war herrlich. Keine schreienden Kinder, keine quasselnden Nervensägen, keine offenen Fenster, aus denen ein Fernseher den Himmel anbrüllte. Niemand mit bitteren Eifersuchtsgedanken, niemand, in dessen Schädel die Einkaufsliste rotierte wie eine Kreissäge. Man hielt sich verschlossen vor der winterlichen, feindseligen Natur – gut, das war vielleicht etwas pathetisch. Er, Dunkelgold, war jedenfalls hier draussen und konnte seelenruhig eine Karamellwaffel beim Laufen knabbern, ohne etwas anderes als seine eigenen Gedanken hören zu müssen. Nur um die Sonne war es schade. Wäre sie nicht so stark, gäbe es mehr Schnee, alles Anstrengende endgültig mit einem weissen Rauschen überlagernd.
Im Folgenden würde er sich anhören, was es über diese Nashornentführung zu sagen gab, und wenn es ihm doch nicht schmeckte, konnte er einfach davonspazieren. Es war wirklich herrlich.
Stückchenweise wurden die Einfamilienhäuser seltener. Die Strasse machte einen Knick, sodass Gaulewin links unterhalb von ihm lag. Auf der Talseite wühlte sich eine tropfende Hecke aus dem Boden, rechts verdichtete sich der Wald, der Asphalt löste sich in Kies und Wohlgefallen auf.
Und dann war es da, das hässliche Haus. Tagsüber sah es noch mehr aus wie ein billiges Chalet. In der Holzverschalung des ersten Stocks fehlte sogar ein Brett, charmant wie eine Zahnlücke.
Am Briefkasten blieb Dunkelgold kurz stehen. Unter dem abblätternden, rosa Lack blinkte es gelb hervor. Einige Edding-Autogramme verzierten ihn, die vorbeigegangene Unpersönlichkeiten hinterlassen hatten – wenn eines zum Kotzen war, dann der ständige Irrtum der Menschen, etwas Einzigartiges, ja ganz und gar Besonderes zu sein und dass jeder erfahren müsse, wie toll und herausragend sie waren. Genau die Leute, die so dachten, waren in der Regel diejenigen, welche all diese Eigenschaften nicht hatten.
Er verputzte die letzten Bissen seiner Karamellwaffel und hielt auf die Terrasse zu. Dort hockte Rasputin. Die gleiche, zerknitterte graue Winterjacke wie gestern bedeckte seinen Rücken. Er war so an einer Terrassenkante platziert, dass der Schatten des Dachüberstandes seine Gestalt genau in der Hälfte durchschnitt. Sein Schal war ebenfalls der gleiche, in gedeckten Farben kariert, wie ein gigantischer, flauschiger Kragen.
Dunkelgold schob die Hände in die Taschen und blieb stehen. „Guten Tag."
Rasputin riss den Kopf herum. "Guten – guten Tag." Er war blass im Gesicht, die Augen gerötet. Sein Blick schwamm zwischen Kniehöhe und Bodenniveau herum. Wüsste Dunkelgold es nicht besser, würde er sagen, Rasputin sähe aus wie ein lebender Toter. Die Frage "wie geht's?" konnte er sich eindeutig sparen. Vielleicht war es besser, wenn er vorerst so tat, als würde er es nicht bemerken. Wahrscheinlich konnte er eh nicht viel ausrichten, zumindest, wenn es um das Nashorn ging.
Rasputin seufzte, streckte ihm eine Hand entgegen. "Also, wir haben vorhin das hier im Brief-, im Briefkasten gefunden."
Dunkelgold nahm das Papierstück entgegen, halb erwartend, dass die Hand im letzten Moment zurückzuckte. Wieder ein Zettel, nicht ganz so mitgenommen wie der erste. Gleiche Handschrift. "In den finstersten Wald", behauptete der Wisch stolz. Dunkelgold schielte unwillkürlich zum Wald, der sich hinter dem Haus ausbreitete, als lauerte er nur darauf, einen Satz nach vorne zu machen, um sie alle zu fressen. Das wurde immer seltsamer. Wobei, wenn Pondus einfach an einen Baum gebunden dort herumstand – leider hatte er das Gefühl, dass es nicht so einfach sein konnte.
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Siebeneinhalb Dämonen
Fantasy"Die Nashornentführung hätte man sich, ähm, hätte man sich sparen können." - Rasputin "Ich würde ja etwas von wegen "feingeistiges Porträt sympathisch verschrobener Charaktere" erzählen, nur ich finde die anderen weder alle sympathisch noch jedwedes...