Lasst mich euch eine Geschichte erzählen, die Geschichte eines einsamen Wolfes. Ein einsamer Wolf, aber was bedeutet er schon? Die Welt bewegt sich weiter, auch wenn ein halb verhungerter und frierender Schatten alleine durch die dunkelsten aller Wälder streift. Wenn er immer auf der Suche ist, nie stehen bleibt, sich immer weiter vorwärts kämpft, durch erdrückende Hitze und klirrende Kälte, durch peitschenden Regen und den schönsten Sonnenschein, durch Stürme aus Wasser, Sand und Eis. Nur um der Leere in seinem tiefsten Inneren zu entgehen. Der Leere, die kein gerissenes Tier, kein klares Bergwasser, kein warmer Schlafplatz und nicht der schönste Sonnenuntergang zu füllen vermag. Und so läuft er weiter, der einsame Wolf. Immer weiter durch Tage und Nächte, jagt dem Mond hinterher, die Sonne stehts im Rücken. Nie hatte er einen Weggefährten. Nie einen Leib, der ihn in den kältesten Nächten hätte wärmen, und nie ein Herz, das ihn in den dunkelsten Stunden hätte trösten können. Er zog allein, er fraß allein, er schlief allein, er jagte allein und er kämpfte allein. Nie hatte er sich wohl gefühlt, wurde er doch immer wie an Fäden weiter gezogen. Folgte er doch immer einem Ruf, der ihn mit einem Leben ohne Eisamkeit lockte und der der Grund war, warum er ruhig schlief. Nie blickte er zurück, immer setzte er seinen Weg fort, weilte niemals lange am selben Ort und behielt auch kaum in Erinnerung, was er hinter sich gelassen hatte. Viele Monde lang war er so gewandert, zahllose Sommer und Winter hatte er erlebt. Nie hatte er gewagt sich zu erinnern. Keine Gedanken über die Frage zugelassen, was vorher war. Wer er überhaupt war und wohin er gehen würde. Er wusste nicht viel, wusste nicht wo er war oder was er war. Doch er wusste, dass er nicht anhalten durfte, er seinen Fäden folgen musste und er dazu geboren worden war, anzukommen oder zu sterben.
Schnee bedeckte seinen Pelz, als er erwachte. Die dunklen Augen des einsamen Wolfes huschten über die weiße Decke, die sich über alles gelegt hatte. Die Bäume ächzten unter ihrer schweren Last, als sein magerer Körper unter ihnen eine Schneise durch das Weiß schlug. Es gelang ihm kaum über den Schnee hinwegzublicken, der dem großen Tier bis über die Brust reichte. Kein Sonnenstrahl drang durch die graue Wolkendecke über den Baumwipfeln. Er war sich nicht sicher, ob er erst Stunden oder schon Tage unterwegs war. Der Hunger, der sich durch seinen ganzen Körper fraß, an seinen Kräften zerrte und von ihm verlangte, langsamer zu werden, war sein ständiger Begleiter geworden. Der einsame Wolf hatte schon lange keine Beute mehr erlegt. Er nahm kein Tier wahr, dessen Witterung er hätte aufnehmen können. Erneut reckte er seine Schnauze in die eisige Luft, doch der schneidende Wind hatte seinen Geruchssinn taub werden lassen. Eis verklebte seine empfindliche Nase und beim Einatmen zuckte ein namenloser Schmerz von seinem Kopf durch den ganzen Körper. Grausam peitschten Sturmböen den Schnee voran und schienen der Welt den Atem rauben zu wollen. Er duckte sich in den Schnee, versuchte sich vor der Kälte und dem Wind zu schützen. Doch er hielt nicht an, sondern teilte weiter mit seinem Körper die weiße Unendlichkeit vor sich. In seinem Fell glitzerten Eis und Schnee, seine Sinne waren erfroren und seine Pfoten taub. Die Spur des einsamen Schattens war kaum noch zu erkennen, als sich die Dunkelheit über den verschneiten Wald senkte. Er war schwach, hungrig, kraftlos und müde, doch seine Fäden zogen ihn weiter, immer weiter. In der Ferne glaubten seine tauben Ohren Wolfsgeheul zu vernehmen, doch er antwortete nicht. Das hatte er nie getan, denn er wusste nicht was die Lieder, die die Seinen vor allem in den klaren Vollmondnächten, aber auch in quälenden Nächten wie dieser sangen, bedeuteten. Als die Kräfte das Tier schon fast verlassen hatten, erfassten seine Augen ein schwaches Licht. Nur für den Bruchteil eines Herzschlags hatte er es aufleuchten sehen, doch dieses Licht hatte seine Beine, seinen Atem, seine Gedanken, den Hunger und sein Herz zum Stillstand gebracht. Er stand da, der einsame Wolf. Der Wind schien abgeklungen, das Rauschen in seinen Ohren verstummt, die Kälte gewichen, die Umgebung seltsam verschwommen und die Schneeflocken waren mitten im Fall stehengeblieben. Er horchte in sich hinein. Ja, die Leere, sie hatte sich zurückgezogen. War verdrängt worden, von einer Wärme, wie er sie noch nicht gespürt hatte, wie er sie sich nie erträumen hätte können. Und dann war sie wieder da, grausamer und größer als je zuvor: seine Leere. Sie war in der Sekunde wieder da, in der das Licht verschwunden war. Der Wind rauschte wieder in seinen Ohren, der Schnee fiel wieder kalt auf ihn herab und die Bäume um ihn herum wurden wieder vom Sturm gepeitscht. Seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen, doch nie war sein Wille stärker gewesen. Nie hatte er den Pfad verlassen, der ihm von seinen Fäden gewiesen wurde, doch jetzt war etwas in ihm erwacht, etwas, das lange geschlafen hatte, vielleicht nie hätte geweckt werden sollen. Das Tier warf sich zur Seite, es preschte durch das tiefe Weiß und zog eine Wolke aus Schnee hinter sich her. Er hatte sich die Stelle genau eingeprägt wo das Licht erschienen war. Seine Sinne waren schärfer denn je. Er nahm alle Geräusche, Gerüche und Bewegungen um ihn herum war, wie noch nie. Der eisame Wolf kämpfte sich durch den Schnee. Als er das Leuchten wieder erblickte, war es viel näher und viel heller als zuvor. Sein Atem ging schnell, er hatte sich nie kräftiger, stärker, besser gefühlt als in diesem Moment. All der Schmerz, den er je erlebt hatte, all der Hunger, die Kälte und Eisamkeit, all das schien vergessen. Schien dieses Gefühl wert gewesen zu sein und so setzte er seinen Weg fort. Die Augen zusammengekniffen, seine Muskeln schienen wieder die Kraft zu erlangen, die er so lange vermisst hatte. Er genoss den eisigen Wind, der an seinem Fell zerrte und legte seine Ohren an, um noch schneller laufen zu können. Vor ihm schählte sich etwas aus der Dunkelheit der Winternacht und er blieb stehen. Das Tier hatte soetwas schon einige Male gesehen. Es waren seltsame Kästen, die in der Nacht alle gleich aussahen, doch am Tag erstrahlten sie in den wunderbarsten Farben. Oben liefen sie meist spitz zusammen wie Berge, waren aber bei weitem nicht so groß. Die meisten Bäume konnten sie überragen, doch die Kästen waren stehts etwas größer als der einsame Wolf selbst. Es waren Löcher in ihnen, die spiegelten wie kristallklare Waldseen und immer mindestens ein großes Loch, wie der Eingang zu einer schmalen Höhle. Ein oder zwei Mal hatte er gesehen, dass man sie mit einem ebenso großen Brett verschließen konnte. Aber das Seltsamste waren nicht die Kästen, die einzeln oder auch zu mehreren an den Waldrändern standen. Nein, es waren die Wesen, die scheinbar in ihnen lebten. Sie hatten kein Fell, auch keine Federn oder Schuppen, doch sie waren auch nicht nackt, denn sie hatten Häute über ihren Eigenen, die so bunt waren wie ihre Kästen. Auch liefen sie nicht auf ihren vier Beinen, sondern bewegten sich auf den Hinterläufen, während ihre Vorderbeine einfach in der Luft baumelten. Nur auf ihren Köpfen, die wie große Eier aussahen, wuchs Fell in den unterschiedlichsten Farben. Manche besaßen das Fell auch im unteren Teil ihres Gesichts, meist unter ihrer winzigen Schnauze. Diejenigen, die mehr Fell im Gesicht hatten, schienen die Alphas ihrer Rudel zu sein, obwohl es auch Anführer gab, die kein Fell unter der Schnauze hatten. Außerdem gab es sie in den verschiedensten Größen, manche waren so groß wie das Tier selbst, andere reichten ihm nur bis zur Brust, dann gab es noch welche, die nur so groß waren wie seine Beine. Einmal hatte er einen Blick auf ein Wesen erhaschen können, das sogar ihn überragte und dreimal sah er Wesen, die so klein waren, dass er sie problemlos mit einem Bissen hätte verschlingen können. Diese winzigen Dinger hatten gar kein Fell und wurden von den Größeren nur herumgetragen. Allerdings mehr von denen, die ungewöhnlich langes Fell auf dem Kopf hatten und kaum von den Alphas. Das hatte ihn besonders gewundert, warum diese, anscheinend ja sehr zerbrechlichen Wesen nicht vom Anführer des Rudels beschützt wurden. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sich das große Loch des Kastens öffnete, Licht auf die Schneedecke davor fiel und die Umgebung in ein blasses warmes Gelb tauchte. Der einsame Wolf duckte sich in den Schutz der Bäume und schlich dann näher an die Quelle des Leuchtens heran, um mehr sehen zu können. Als er so nah an dem Kasten war, wie er heran konnte ohne entdeckt zu werden, fixierten seine dunkeln Augen eines dieser Wesen, das gerade in den Schneesturm hinausgetreten war. Wieder setzte sein Herz einen Schlag aus, ehe es so schnell zu schlagen schien, als wolle es ihm aus der Brust springen. Das Wesen war kleiner als er, hatte kurzes blondes Fell auf dem Kopf und blaue Augen. Es sah nicht aus wie ein Alpha, allerdings auch nicht wie eines der Wesen mit dem langen Fell. Das Tier hatte diese Wesen eigentlich immer ziemlich hässlich gefunden, wie sie auf ihren Hinterbeinen durch die Gegend gestakst waren und mit ihrer zweiten Haut, die ihnen manchmal gar nicht zu passen schien. Doch dieses Wesen war anders. Es war wunderschön, anziehend und irgendwie seltsam erregend. Unzählige unbekannte Gefühle schossen ihm durch den ganzen Körper, die er noch nie gespürt hatte. Er reckte seine Schnauze in die Luft und sog den Geruch ein, den der Wind zu ihm herübertrug. Die Duftpartikel explodierten förmlich in seinem Gehirn und das Tier konnte ein Geräusch nur schwer unterdrücken. Wie es sich wohl anfühlte, ganz nahm bei diesem Wesen zu sein? Seine Haut und sein Fell zu berühren. Ob sein Duft nach Lavendel, Zitrone und Frühling wohl noch intensiver wäre, je näher er ihm käme? Die Leere in seiner Brust war plötzlich komplett ausgefüllt mit Verlangen. Er wollte jetzt zu diesem Wesen, nicht später, nicht morgen, sondern jetzt sofort. Langsam erhob das Tier sich aus seiner Deckung und trat stolz mit erhobenem Haupt aus dem Schatten des Waldes. Der Sturm hatte etwas nachgelassen und zerrte nicht mehr am Fell des Wesens, das sich vor die Öffnung des Kastens gesetzt hatte und nun aufsah. Für einen Moment blieb der Wolf stehen und die Blicke des Wesens und des Tieres trafen sich. Wieder stand die Welt still, der leicht verschreckte Ausdruck in den blauen Augen verschwand und wich einem warmen, glücklichen Leuchten. Der Wolf hatte das Meer nur einige Male gesehen, doch er war sich sicher, dass jemand eben jenes an einem sonnigen Tag gestohlen und dem Wesen als Augen eingesetzt hatte. Das Wesen erhob sich und machte zwei Schritte auf den Schatten zu, der sich nun wieder in Bewegung setzte und ihm entgegen ging. Je näher das Tier kam, desto intensiver wurde der Duft und desto größer wurde auch sein Verlangen. Als die beiden sich nun direkt gegenüberstanden senkte es den Kopf und sah erneut in das Blau der Augen. Unergründlich schienen sie und doch so offen. Vorsichtig hod der Zweibeiner eine seiner Vorderpfoten und strich damit ganz zart über das eiskalte Fell des Wolfes. Er spürte die Berührung kaum, doch sobald die Pfote des Wesens auch nur ein einziges seiner Haare berührte, ging eine angenehme Welle der Zufriedenheit und Vollkommenheit durch seinen ganzen Körper. Immer wieder strich die Vorderpfote über sein Fell und er schloss langsam seine Augen. Der Wolf war so müde, so glücklich, als wäre ihm eine Last von den Schultern genommen worden. Er fühlte sich bereit, wofür war ihm nicht ganz klar, doch er wusste, er hatte sein Ziel erreicht und könnte jetzt für eine lange Zeit schlafen. Er hatte seinen Frieden gefunden, er war bereit loszulassen. Eines Tages würde er wohl wieder gebraucht werden, doch dieser Tag war noch fern. Er war am Ende seiner langen beschwerlichen Reise und zwar für diesen einen Moment mit diesem einen Wesen, von dem er nun auch wusste, was es war. Es war ein Mensch und dieser Mensch bedeutete nun das Ende seiner Einsamkeit. Seinen Teil eines Versprechens, das er vor vielen vielen Monden gab, hatte er nun erfüllt und nun würde ein Anderer an seine Stelle treten. Einer, der ebenso willensstark und furchtlos war wie er. Einer, der kämpfen würde und sich nicht geschlagen gab. Einer, der das Herz eines Wolfes besaß, wenngleich sein Anklitz das eines Menschen war. "Ich danke dir", hallte es leise durch seinen Kopf und er wusste, dass er es war für den diese Worte bestimmt waren. "Ich werde immer für dich da sein", antworteten die Gedanken des Wolfes, ehe er sich löste und seinen Körper frei gab. Er zog sich zurück in einen Teil seines Bewusstseins, in dem er sich für eine lange Zeit ausruhen würde, ehe er wieder gebraucht wurde. Als er seine Augen wieder öffnete, spürte er die warme Hand des jungen Mannes auf seinem Hals. Er sah das Haus vor sich, durch dessen Tür das Licht auf sie fiel. Er spürte den kalten Schnee unter seinen Fußsohlen und das Handgelenk des Bloden, das er sanft in seiner rauen Hand hielt. Dann sah er den Blonden an, sah das Meer in seinen Augen, das geheimnissvoller nicht hätte sein können. Er las in seinen Augen die Überraschung und auch etwas Schock, doch ebenso erkannte er Liebe und Erleichterung, die ihn zum Lächeln brachten. Ehe er sich jedoch näher mit diesen Augen beschäftigen konnte, zerrte der Wind an ihm und wirbelte seine gräulich-weißen Haare durcheinander. Er spürte die Kälte und den Schnee auf seiner nackten Haut. Ein Schauer durchfuhr ihn und er begann zu zittern. Das Handgelenk wand sich sanft aus seinem lockeren Griff und er wollte schon enttäuscht aufjaulen, doch da legte sich plötzlich eine Hand in die Seine. Überrascht schloss er seine große Hand um die Kleinere und wollte erneut in die warmen blauen Augen sehen, doch der Mensch hatte ihm bereits den Rücke zugewandt und zog ihn leicht hinter sich her auf die Tür des Hauses zu, die immer noch offen stand und durch die etwas Schnee ins Innere gelangt war. Schweigend schloss der Blonde die Tür hinter beiden und führte ihn anschließend eine Treppe nach oben. Der Mann mit dem Wolfsherz folgte ebenso schweigend und ließ sich in einen Raum mit einem großen Bett, einem ebenfalls großen Schrank, einem Schreibtisch samt Stuhl, sowie vielen Bildern und Fotos an den Wänden ziehen. Dort lösten sich ihre Hände und der Blauäugige öffnete den Schrank. Kurz blickte er den Anderen prüfend an und fischte dann einige Kleidungsstücke heraus. Anschließend schloss der Kleinere die Türen des Schrankes wieder und reichte ihm eine Boxershorts, eine Jogginghose und einen Kapuzenpullover. Sofort streifte er sich die Beinbekleidungen über und zog dann auch das Oberteil über seinen etwas abgemagerten, aber doch recht muskulösen Oberkörper. Als ihm etwas wärmer war, trafen sich ihre Blicke wieder und eine Welle der Wärme und des Verlangens überrollte den Größeren. Er sog erneut den Duft nach Lavendel, Zitrone und Frühling ein, ehe er sich Schritt für Schritt auf den Blonde zu bewegte, der erst ruhig stehen blieb, dann aber doch, etwas unsicher geworden, zurückwich und kurz darauf den Schrank im Rücken hatte. Als er direkt vor ihm stand strich er mit einer Hand sachte über die Wange des Menschen und beugte sich dann etwas herunter, um dem Anderen in die Augen sehen zu können. Ein leichtes Rot überzog die Wangen des Blauäugigen, als er den Blick des Größeren erwiederte und sich dabei leicht auf die Unterlippe biss. Er zuckte leicht zusammen, als die kleine Hand des Blonden sich auf seine Brust legte. Aus Reflex legte er beide Hände an die Taille des Menschen und zog ihn so näher an sich heran, bis ihre Lippen nur wenige Millimeter voneinander entfernt waren. "Gefährte...", kam es rau über die Lippen des Dunkeläugigen. Der Andere schlug die Augen nieder und nickte, ehe er wieder aufsah und flüsterte: "Ja...", was ein Lächeln auf die das Gesicht des Größeren zauberte. Dann verband der Werwolf sanft seine Lippen mit denen des kleineren Menschen und versank in dem Meer seiner blauen Augen und dem Geschmack seiner rosanen Lippen, während er dessen Hände auf seiner Brust spürte, wie sie sich leicht in den Stoff des Pullovers krallten.
(2712 Wörter)
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Wolfs-Rudel
Kurt AdamWölfe... sie sind überall... und sie riechen dich sie riechen deine Angst. Renn. Solange du noch kannst. Versteck dich. Solange sie dich noch nicht gesehen haben. Denn wenn sie dich finden. Dann bist du tot. ...