Kapitel 9 - Wolldecke

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< FYNNLEY >
(Griffin Gluck; l)
(r: Thomas Barbusca)

Ich verfolge das Gespräch zwischen Ace und seinen Schwestern eher abwesend. Er irritiert mich. Warum tut er jetzt so, als wären wir zusammen? Natürlich, ich habe ihm versprochen, dass er was bei mir gut hat, aber mit soetwas habe ich nicht gerechnet. Macht das Situation nicht nur unnötig kompliziert? Noch immer liegt sein Arm um meinen Bauch und ich bin ihm unangenehm nah. Solange er sich nichts einbildet, soll es mir recht sein, beschließe ich. Auf meinem Lippen liegt ein möglichst höfliches Lächeln. Lucy wirft mir zwischendurch ein paar seltsame Blicke zu, bis ich verstehe, dass ich wohl kaum wie ein verliebter Freund wirke, der gerade geoutet wurde. Aber wie verhält man sich dann bitte? Unsicher lege ich meinem Arm um Ace' Schultern, und zwinge mich dazu, meinen Gesichtsausdruck sanfter lassen zu werden.

Lucys zufriedener Blick daraufhin lässt mich etwas entspannen, und ich glaube sogar, dass ich meine Rolle gar nicht so schlecht spiele. Nach geschlagenen zehn Minuten verziehen sich die beiden Mädchen endlich, und lassen Ace bei mir zurück. Da auch die restlichen Gäste langsam beschließen, sich auf den Heimweg zu machen, verabschieden wir uns von denen, die nochmal auf mich zukommen, und gehen dann hoch. Unsere Körper berühren sich nicht mehr, seit die Luckes das Gebäude verlassen haben und bisher bin ich auch noch nicht auf eine potentielle Beziehung angesprochen worden. Scheinbar haben wir die perfekte Balance zwischen 'Freunde' und 'Paar' gefunden, sodass niemand Verdacht schöpft.

„Du musst mir was erklären", stelle ich trocken fest, als Ace sich auf mein Bett sinken lässt. Scheinbar beansprucht er es nun für sich. Ich setze mich auf meinen Schreibtisch, und baumel etwas mit den Beinen. Ich warte darauf, dass er etwas sagt, aber das dauert ein wenig.
„Ich will nicht, dass meine Familie denkt, ich wär' 'n Fuckboy", erklärt er und setzt sich auf. „So ist es leichter, das zu erklären. Wir tun ein paar Wochen lang so, als wären wir zusammen, wenn meine Familie dabei ist, und dann "trennen" wir uns." Er malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. „In unserem Alter ist es normal, dass man danach noch befreundet ist."

Kritisch beäuge ich ihn. Dann seufze ich auf. Ich habe es versprochen. „Was genau muss ich machen, wenn deine Familie dabei ist? Einen Arm um deine Schulter legen - das wird ihnen nicht lange reichen."
„Du hast recht. Aber nichts für ungut, auf Küssen habe ich auch echt keinen Bock", merkt Ace an, und grinst schelmisch. Ihm scheint diese Lüge sogar irgendwie Spaß zu machen. Ob er seine Eltern oft belügt? „Vielleicht... Händchen halten? Spitznamen? Irgendwie sowas jedenfalls", schlägt er vor, und zuckt mit den Schultern. In mir steigt die Vermutung auf, dass er nicht besonders viel Ahnung von Beziehungen hat. Natürlich ist das in unserem Alter total normal, aber es amüsiert mich trotzdem.

„Wo sind deine absoluten Grenzen?", will ich wissen. Meine eigenen kenne ich immerhin sehr genau, aber ich weiß nicht, wie er die Sache angehen würde. Da wir uns nicht lange kennen und das nur eine Fake-Beziehung ist, gibt es spürbare Hemmungen zwischen uns, darüber zu sprechen. Ace zögert sichtlich und scheint mit sich selbst zu ringen. „Alles, was irgendwie in die sexuelle Richtung geht", gibt er vage zur Antwort, was mir aber schon genügt. Wir haben ungefähr dieselben Grenzen. „Gut. Händchen halten, Blicke zuwerfen, irgendwas zuflüstern und wenn du nichts dagegen hast Spitznamen und Küsse auf die Wange", zähle ich Dinge auf, die mir auf die Schnelle einfallen.

Da mein Wecker mir anzeigt, dass es schon halb eins ist, gehe ich zu meinem Schrank, und suche eine Jogginghose raus, die mir zu klein ist. Dann ziehe ich wahllos ein Shirt aus dem Schrank und werfe es Ace rüber. Dieser scheint über meinen Vorschlag nachzudenken, und hebt geistesabwesend die Sachen auf. Ich entscheide mich dagegen, oberkörperfrei zu schlafen, damit er sich nicht unwohl fühlt. Wobei er das vermutlich ohnehin schon tut in Anbetracht der Tatsache, dass wir beide in einem Bett schlafen müssen. Aber ist das nicht normal unter Freunden? Ich schüttle meine seltsamen Gedanken fort. Ich bin sicher nur so seltsam, weil die Gesamtsituation einfach neu und bescheuert ist.

Wir ziehen uns zum dritten Mal an diesem Tag gemeinsam um. Ich vermeide es, dabei zu ihm herüberzusehen. Als wir dann allerdings fertig sind, stehen wir uns unschlüssig gegenüber. Keiner von uns beiden ist müde und außerdem... „Ich habe nur eine Decke", spreche ich meinen Gedanken laut aus, und sehe mich suchend um. Aber nichts. Sämtliche Wolldecken von mir befinden sich im Zimmer meiner Eltern. Ich komme mir vor, wie in einer dieser seltsamen Teen-Schnulzen und beschließe, dass ich es lieber nicht darauf ankommen lasse. Sicher sind meine Eltern noch nicht in ihrem Zimmer. Mit diesem Gedanken verlasse ich den Raum, und laufe möglichst leise den Flur entlang. Dabei komme ich direkt am Zimmer meines Bruders vorbei. Zögernd halte ich inne.

Da er heute nicht zuhause ist, wäre es leicht, unbemerkt eine seiner Wolldecken aus dem Schrank zu holen. Ich werfe einen Blick zur Tür des Schlafzimmers meiner Eltern. Dort brennt kein Licht. Ich weiß nicht, ob sie nicht dort sind oder doch schon schlafen möchten. Flink schlüpfe ich also in das Zimmer meines Bruders, und versuche, möglichst leise nach einer Decke zu suchen. Kaum habe ich eine gefunden, mache ich mich auf den Weg zurück zu Ace, der schon wieder die Fotos an den Lichterketten betrachtet. Ich halte im Türrahmen inne. Er wirkt so verletzlich im Gegensatz zur Schulzeit. Als würde ein falsches Wort reichen und seine Welt wäre zerstört. Bisher habe ich nur den verpeilten, lustigen Ace mit der seltsamen Familienkonstellation kennengelernt. Jetzt sehe ich seine andere, unsichere Seite, die mit dem plötzlichen Reichtum klarzukommen versucht.

Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, ist toxisch und perfektionistisch. Für jemanden, von dem diese Welt lange ferngehalten wurde, muss es grauenvoll sein, plötzlich mittendrin zu stehen.
Ich räuspere mich leise. Er zuckt extrem zusammen, setzt aber sofort wieder ein glückliches Gesicht auf. Es ist okay, Ace, denke ich, halte aber doch nur die Decke hoch: „Hier. Hab eine gefunden."

SUFFERING Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt