Kapitel 17 - Vanille

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< ACE >
(Thomas Barbusca)

Es ist kurz vor Mitternacht, als sich der letzte Onkel von uns verabschiedet. Ich atme erleichtert auf, als ich durch das Küchenfenster sehe, wie er das Grundstück verlässt. Fynn steht neben mir an die Kücheninsel gelehnt, und schmunzelt. Ihn scheint der Abend nicht gestört zu haben. Da ich mich bemühe, mir nichts anmerken zu lassen, schöpft er keinen Verdacht, was in meinem Kopf vor sich geht. Oder er kommentiert es einfach nicht. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, frage ich mich, was ich für ihn empfinde. Bisher habe ich geglaubt, dass das zwischen uns nur enge Freundschaft mit einer kleinen Lüge ist, aber mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher. Zumindest nicht von meiner Seite aus.
„Ahh, Fynnley, du bist noch nicht weg", meine Mutter betritt die Küche, und scheint tatsächlich erfreut über die Anwesenheit meines 'Freundes'. „Ich wollte eh noch mit euch reden. Bald sind ja Herbstferien, nicht? Jessica, Lucy und Michael und ich möchten da in die Berge fahren, um zu wandern."

Sie sieht nun mich an: „Ich weiß ja, dass du das nicht magst. Also hast du etwa eine Woche sturmfrei. Ich wäre dir, Fynnley, dankbar, wenn du ab und an zu Besuch kommen könntest um nach dem Rechten zu sehen. Nach heute Mittag habe ich das Gefühl, ich kann dir wirklich vertrauen."
Fynn blickt überrascht drein. Scheinbar hat er mit soetwas nicht gerechnet. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Natürlich freue ich mich, dass ich eine Woche allein sein werde, aber ich weiß nicht, was ich bis dahin über mich selbst herausfinden werde. Ob ich dann noch in Fynns Nähe sein will? Es sind noch zwei ganze Wochen bis zu den Herbstferien.
Dass Fynn einwilligt, nach dem Rechten zu sehen, erstaunt mich kein bisschen. Immerhin ist er tatsächlich besorgt um mich, wie ich in den vergangenen Stunden herausgefunden habe.
Zufrieden lässt meine Mutter uns wieder allein, und geht vermutlich zu meinem Vater. Ich wende mich an Fynn: „Lass uns noch ein wenig in den Garten gehen. Wenn du nicht nach Hause willst..."

„Gern", erwidert er, und kratzt sich verlegen am Hinterkopf. „Wenn ich ehrlich bin habe ich gehofft, bei dir pennen zu können. Meine Eltern sind heute nicht zuhause und mein Bruder schmeißt wieder irgendeine dumme Party."
„Du kannst gern bleiben", stimme ich zu und stelle erst im Nachhinein fest, wie glücklich ich klinge. Eilig reiße ich mich wieder zusammen. „Aber wir haben keine Ersatzmatratzen."
„Kommt mir bekannt vor", Fynn muss lachen und steckt mich damit automatisch an. Ein Flashback an den Galaabend durchzuckt meinen Kopf. Zu diesem Zeitpunkt war mein Gewissen noch beruhigt. Ob ich diese Nacht gut schlafen kann?
Wir begeben uns nach draußen in den Garten, und setzen uns dort auf den frisch gemähten Rasen. Ich liebe diesen Geruch mindestens so sehr wie Vanille, und atme tief durch. Über uns funkelt der Sternenhimmel, und der sichelförmige Mond verströmt sein silbriges Licht. Es ist noch lauwarm, und nur ab und zu streift meine Arme eine leichte Brise. Fasziniert nehmen meine Sinne all das wahr.

Wie selbstverständlich legt Fynn einen Arm um meine Schultern, und zieht mich sanft zu sich. „Deine Schwester steht am Fenster", flüstert er mir zu Erklärung zu. So oder so ist die Atmosphäre einfach magisch. Ich lehne mich gegen ihn. Wenn er fragt, behaupte ich einfach, dass es wegen meiner Schwester ist. Als ich seinen Geruch zum ersten Mal wirklich intensiv einatme, läuft mein Kopf Amok. Er riecht nach Vanille und frischen Erdbeeren und gleichzeitig nach dem typischen Geruch eines Männerdeos. Ohne weiter darüber nachzudenken drehe ich mein Gesicht in seine Halsbeuge, und lasse mich weiter in die Umarmung sinken. Er lacht auf. Sein Brustkorb vibriert dabei leicht, und ich glaube kurz, seinen schnellen Herzschlag wahrzunehmen. „Viel Spaß, das hier wieder aufzulösen", raunt er mir leise zu. Ich ignoriere seine Worte aber. Wenn ich ehrlich bin, habe ich gar nicht mehr das Bedürfnis, irgendetwas aufzulösen. Es ist, wie es ist. Ein Sound von TikTok kommt mir plötzlich in den Kopf. Er passt perfekt.
He is my boyfriend. He doesn't know it yet, but he is my boyfriend!

Der Moment ist perfekt. So perfekt, dass es klar ist, dass wir gestört werden. Mein Vater ruft nach mir. Ich verdrehe bloß die Augen, bleibe aber sitzen. So lange, bis er näher kommt.
„Ace, kommst du bitte mal eben? Ich muss mit dir reden. Es ist wichtig."
Ich habe das dumpfe Gefühl, dass er noch nicht so recht damit klarkommt, dass ich -angeblich- mit Fynn zusammen bin. Er gibt sich jede Mühe, aber ich spüre seine Blicke auf uns, wann immer wir uns etwas näher sind. Murrend erhebe ich mich und folge ihm ins Haus. Wir setzen uns ins Wohnzimmer auf die Couch, von wo ich einen guten Blick auf Fynn habe. Er hat sich auf die Wiese gelegt, und scheint recht entspannt zu sein.
„Ace", erhebt mein Vater wieder das Wort. „Wann glaubst du, wird Fynnley dich seinen Eltern vorstellen?"
Fragend sehe ich ihn an. Was soll das denn jetzt? Will er mir ausreden, dass Fynn mich 'liebt'? Er scheint meinen Misstrauen zu spüren, denn er fügt schnell hinzu: „Du weißt ja, dass Hayley und seine Eltern miteinander Geschäfte machen. Und ich glaube, du hast heute am eigenen Leib erfahren, was passiert, wenn man bei so einem wichtigen Thema Geheimnisse hat."

„Was willst du damit andeuten?", hake ich nach und bin immer verwirrter. Was hat der Abriss meines alten Zuhauses mit meiner Fake-Beziehung zutun?
„Es kann passieren, dass deiner Mutter etwas rausrutscht. Ihr solltet einfach schneller sein, auch wenn sie es nicht akzeptieren. Du weißt, dass Fynnley hier immer herzlich willkommen ist, auch über einen längeren Zeitraum hinweg, Ace. Bitte rede mit ihm darüber", bittet mein Vater mich, und ist dabei so direkt, dass ich erschrocken zusammenzucke. Langsam wird mir klar, in was für eine Scheiße ich Fynn reingerissen habe.

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