Kapitel 4 - Galaabend

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< ACE >
(Thomas Barbusca)

Es dauert rund fünf Minuten, bis Jessica und Lucy am Wagen ankommen. Sie kommen zusammen. Daraus schließe ich, dass ihre Klassenräume sich nah beieinander befinden. Ich gebe keinen Kommentar ab, wie ich es sonst tun würde, sondern warte einfach darauf, dass Jessica das Auto aufschließt. In der Annahme, dass ich nun auf dem Beifahrersitz sitzen darf, öffne ich die vordere Tür. Lucy wirft mir einen tödlichen Blick zu, akzeptiert aber ihr Schicksal auf der Rückbank. Sie ist schon den ganzen Tag mies drauf. Ich weiß nicht genau, ob es daran liegt, dass wir wieder Schule haben, oder ob sie ihre Tage hat.

Jessica schaltet das Radio ein, während wir das Schulgelände verlassen. Das Wetter für den nächsten Tag interessiert mich zwar nicht wirklich, aber mir ist so langweilig, dass ich doch tatsächlich zuhöre.

Meine Schwestern scheinen nicht reden zu wollen. Lucy schmollt, Jessica starrt genervt und hochkonzentriert auf die Straße. Sie umklammert mit ihren zarten Händen das Lenkrad so fest, dass die Knöchel deutlich hervorstehen. Irgendetwas muss passiert sein. Ich frage einmal nach, erhalte aber keine Antwort. Stattdessen versucht Jessica, sich zu entspannen, was ihr aber kaum gelingt.

Als wir nach zehn Minuten Zuhause ankommen, stelle ich fest, dass beide Autos unserer Eltern da sind. Das bedeutet, dass auch sie da sind, und mein Vater vermutlich gekocht hat. Er kann das überraschend gut für einen sonst eher tollpatschigen und talentfreien Menschen. Das habe ich definitiv von ihm. Ich verlasse das Auto und folge meinen Schwestern zur Haustür. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob ich das Ding noch als Haus bezeichnen würde. Nachdem ich jahrelang abwechselnd in einer kleinen Wohnung und einer riesigen Villa gelebt habe, erscheint mir die Bezeichnung 'Palast' als durchaus angemessen. Ich habe vorgeschlagen, ein Schloss zu kaufen und zu renovieren, aber bisher wurde dieser Vorschlag ignoriert.

Während ich überlege, wie ich diese Idee nochmal ansprechen könnte (ich finde sie nämlich echt gut), ziehe ich mir die Schuhe aus, und werde achtlos meine Kunstlederjacke in die Ecke, wo auch mein Rucksack gelandet ist. Zu meinem Leidwesen muss ich feststellen, dass mein Vater nicht zuhause ist.
„Er ist spazieren", erläutert unsere Mutter, als ich nachfrage, wo er ist. „Du weißt doch, wie blass er immer ist, das muss sich bis zum Galaabend ändern."
„Was für ein Galaabend?", erkundigt sich Jessica, und öffnet den Kühlschrank, um nachzusehen, ob wir überhaupt etwas essbares besitzen. Sie verzieht enttäuscht das Gesicht, als sie nichts findet.

Mum wirkt empört darüber, dass sie nicht weiß, wovon die Rede ist. Lucy und ich tauschen einen ratlosen Blick. Keiner von uns erinnert sich daran, in letzter Zeit von irgendwelchen Feiern oder so gehört zu haben. Aber da ich bisher ohnehin nicht mitdurfte, höre ich gar nicht erst zu, und gieße mir stattdessen ein Glas Wasser ein. Erst, als Mum erwähnt: „Wir gehen alle hin, sonst erwecken wir vielleicht den falschen Eindruck", horche ich auf und sehe sie überrascht an. Sie nickt mir zu. „Du auch. Wir kaufen dir heute Abend einen neuen Anzug, für einen maßgeschneiderten fehlt uns die Zeit."

Seufzend stelle ich das Glas wieder ab, als ich es ausgetrunken habe, und nicke zustimmend. „Ist gut."
Dann verlasse ich die Küche und werfe einen Blick auf mein Handy. Fynn hat eine Gruppe erstellt. Sie trägt den absolut kreativen Titel 'Gruppentisch-Gang'. Ich spiele mit dem Gedanken, sie zu verlassen, entscheide mich aber dagegen und klinke mich stattdessen in das entstandene Gespräch über Kaiser Nero ein. Scheinbar hat die Büste nicht nur mich irritiert. Während Luke und Aya diskutieren, ob Nero umgebracht worden ist oder sich selbst umgebracht hat, springe ich unter die Dusche.

Wenn ich eins gelernt habe, dann ist das, dass man bei einer Anzuganprobe immer irgendwen an sich kleben hat. Da zu stinken oder gar natürlich zu riechen würde ich nie wieder wagen, nachdem ich das letzte Mal ungeduscht in irgendeinem überteuerten Laden aufgetaucht bin, und Mum mich beinahe wieder rausgeworfen hätte. Das warme Wasser der Regendusche prasselt auf meine Schultern und spült mit der Zeit die Last von ihnen herunter. Es ist, als würde mein Kopf wieder klarer werden. Ich habe gar nicht gemerkt, dass dieser eine Schultag mich gestresst hat, und ich erinnere mich plötzlich an die vergangenen Schuljahre.

Mein Vater ist kurz davor gewesen, mir einen Therapeuten zu suchen. Ich habe mich andauernd geprügelt und musste mehrfach mit einem gebrochenen Arm oder Bein ins Krankenhaus. Ich habe meine Eltern zu dieser Zeit sehr enttäuscht. Das ist nie mein Plan gewesen, aber ich bin einfach mit der Situation nicht klargekommen. Seit ich auf der Welt bin, bin ich ständig zwischen meiner Mutter und meinem Vater hin und hergependelt, bis die endlich wieder zueinander gefunden haben. Auf einen Schlag haben sie dann geheiratet, sind umgezogen und ich musste mich irgendwie arrangieren. Das hat nicht geklappt.

Ich drehe langsam das Wasser ab, und schlage meine Augen auf. Das Shampoo, das ich mir ins Haar schmiere, riecht nach Grapefruit. Ich mag den Geruch nicht, aber mein Vater sagt immer, dass ich mich noch daran gewöhnen werde. Vielleicht stimmt das ja auch. Ohne weitere Gedanken an mein Shampoo oder das Duschgel, das nun folgt, zu verschwenden, wasche ich den entstandenen Schaum wieder ab. Für gewöhnlich mache ich mir keinen Kopf um Klassenkameraden. Sie sind nur Klassenkameraden. Heute denke ich allerdings oft an Aya, Fynn und Luke. Ob es eine gute Idee ist, sich mit ihnen anzufreunden?

Ich lasse den Tag in meinem Kopf Revue passieren, finde aber einfach keine eindeutige Antwort. Erst eine halbe Stunde später verlasse ich das Badezimmer, und mache mich mit meiner Mutter auf den Weg, um einen schlichten, schwarzen Anzug zu besorgen, der viel zu fein und teuer aussieht, als dass er mir steht.

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