„Wie lange bleibst du, Schatz?"
„Nicht lang."
„Wo wohnt dieser Taehyung überhaupt? Sollen wir dich abholen kommen?"
„Alles gut."
„Ruf an, wenn etwas sein sollte. Und vergiss nicht, dass du nach dem Unterricht noch Training hast."
„Alles gut."Er reißt den Mund zu einem Gähnen auf. Keine Sekunde nachdem die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fällt. Der säuerliche Geruch von Putzmitteln steigt ihm in die Nase und lässt ihn so heftig niesen, dass er sich an dem Geländer, von dem die Lackierung bereits abblättert und bei jeder Berührung kleine, dunkelgrüne Lackflöckchen zu Boden segeln, festhalten muss.
Tränen waren ihm in die Augen getreten, aber er blinzelt sie weg und beginnt langsam die Treppenstufen hinunter zu steigen. Schritt für Schritt, die Augen fest auf seine alten, verdreckten Sneaker gerichtet. Das Gewicht seines Rucksacks zieht ihn nach hinten und er spürt bereits jetzt, dass ihm seine Schlaflosigkeit in der letzten Nacht - trotz seiner morgendlichen Runde im Park - zum Verhängnis werden würde.
Für gewöhnlich kann er das Zittern seiner Beine ignorieren, bis er wieder die Möglichkeit hat sich zu setzen, doch an diesem Morgen verfehlt er die letzte Stufe und knickt weg.
Einen kurzen Augenblick lang sitzt er dort auf den kalten, frisch geputzten Fliesen des Treppenhauses und starrt den Fußabtreter seines Nachbarn Kim Seokjin - ein verrückter Schriftsteller in seinen Dreißigern mit einer außergewöhnlich exzessiven Vorliebe für Orchideen, was sich selbst an der Gesamterscheinung seiner Wohnungstür erkennen lässt - an. Doch dann hört er von einem Stockwerk höher die Tür seiner eigenen Wohnung aufgehen und die Stimme von Taeyang, der sich meist unmittelbar nach ihm auf den Weg zur Arbeit macht.
Hastig greift er nach dem Treppengeländer, zieht sich daran hoch, zurück auf die zittrigen Beine und verlässt das Mehrfamilienhaus so schnell wie möglich. Der Stadtlärm des morgendlichen Pendelverkehrs schlägt ihm entgegen und er senkt den Blick, um den üblichen Stau vor seiner Haustür nicht mitansehen zu müssen.
„Hey! Jeon Junior!"
Wenig überrascht dreht er sich um, auch wenn er weiß, was ihn erwartet. Seokjin sitzt auf seiner Terasse, eine Ausgabe der Zeitung von heute in der einen und eine dampfende Tasse Kaffee in der anderen Hand. Er trägt seinen blassblauen Morgenmantel und auf dem Kopf den Cowboyhut; er hat den Schriftsteller noch nie ohne gesehen.
„Guten Morgen, Mr. Kim", begrüßt er ihn höflich und packt die Träger seines Rucksacks fester, als er sich umdreht.
„Willst du die Zeitung, Junge?"
„Nein, danke."
„Sicher? Heute gibt es einen Extraartikel über die letzte Raummission der NASA."
„Ich hab's nicht so mit der NASA."
„Es ist wirklich sehr interessant."Er lächelt hilflos und schüttelt ein letztes Mal den Kopf. Es ist jedes Mal das selbe; jeden Morgen das gleiche Angebot und immer lehnt er höflich ab, auch wenn es nicht immer nur den Grund hat, dass er seinen Bus nicht verpassen darf.
„Vielleicht ein anderes Mal. Aber vielen Dank für das Angebot. Einen schönen Tag noch, Mr. Kim."„Wie oft haben wir schon darüber geredet, dass du mich beim Vornamen nennen kannst?", ruft Seokjin ihm hinterher, doch er hat sich schon umgedreht und tut, als hätte er diese Worte nicht mehr gehört.
Der Bus ist zum Bersten voll, aber sein Stammplatz neben einem kleinwüchsigen, übergewichtigen Jungen namens Bob ist noch frei und er quetscht sich an ihm vorbei ans Fenster, seinen Rucksack dicht an sich gepresst und den Blick starr auf die Straße gerichtet.
Gegenüber von Bob sitzt für gewöhnlich ein zweiter Junge, der auf den Namen J hört - offensichtlich handelt es sich hierbei um einen Spitznamen, aber dadurch, dass Bob ihn niemals anders gerufen hatte, hatte sich J in den letzten zwei Jahren als vollwertiger Name erfolgreich etabliert - und in seiner Erscheinung das komplette Gegenteil von Bob bildet.Bob und J sind Freunde und jeden Morgen heftig darauf konzentriert neue Debatten über Computerspiele zu führen, von denen er selbst keine Ahnung hat. Anfangs hatten sie versucht ihn trotz dessen in ihre Gespräche einzubinden, es allerdings aufgegeben, als er anfing, ihnen den biologischen Grund für eine schwächere Hand-Augen-Koordination zu erklären. Seitdem hatten sie es nie wieder versucht, ihm aber trotzdem jeden Morgen seinen Platz freigehalten.
An diesem Morgen ist J krank, weshalb Bob sich seine Kopfhörer aufgesetzt hatte und im Takt der Musik und den Abständen der Schlaglöcher, über die der Bus rast, als gäbe es sie nicht, seinen Kopf hin und her wiegt.
Er starrt aus dem Fenster und versucht währenddessen abzuschätzen, wie sehr die Federung des Busses über einen bestimmten Zeitraum ausgelastet werden müsste, um das Fahrzeug schrottreif zu bekommen, kommt auf etwa drei Monate und überlegt dann ob er in dem neuen Bus wieder das Glück haben würde einen Sitzplatz neben Bob und J zu bekommen.
Denn eines steht trotz dieser für normale Verhältnisse recht kläglichem Sozialisierung seiner selbst fest; Bob und J sind zwei der vier Personen seines Alltags, die ihn aktiv wahrzunehmen schienen.
Zumindest ist das bis vor vier Tagen noch der Fall gewesen.
DU LIEST GERADE
End of Spring ⇢ Taekook
FanfictionJeon Jeongguk ist ein Wunderkind (wie seine Eltern es ausdrücken würden), ein Freak (wie er es ausdrücken würde) und der faszinierendste Junge der Welt (wie Taehyung es ausdrücken würde). „Das Ende des Frühlings... diese Zeit ist wie der Absprung in...