III

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So sehr er auch unter der Vermutung seiner Eltern leidet, ein Wunderkind zu sein, so sehr genießt er es die Dinge im Alltag der Menschen sehen zu können, die sonst niemand außer ihm sieht.

Er lernt schnell und kann sich viel von dem behalten. Und das ist, ob man es vermutete oder nicht, in jeglichen Lebenshinsichten eine wertvolle Begabung. Nicht nur in der Mathematik.
Bis zur sechsten Klasse hatte er Privatunterricht genommen und war ausschließlich über seine unzähligen Freizeitaktivitäten mit Gleichaltrigen in Kontakt gekommen. Doch das hatte ausgereicht, um sie zu verstehen.

Er hatte Bücher gelesen über Wunderkinder, die im Gegenzug zu ihrer Begabung eine immense, soziale Inkompetenz entwickelt hatten und in der Schule wie ein Schaf von Wölfen zerrissen wurden. Natürlich hatten ihm diese Geschichten Angst eingejagt vor jenem Tag, an dem seine Mutter ihn aufgrund zur Weiterentwicklung seiner (wie bei vielen Wunderkindern) nicht vorhandenen, sozialen Kompetenzen, vom Privatunterricht in die Schule schicken würde. Und vermutlich war es diese Angst, die es ihm ermöglicht hatte, bis zur neunten Klasse so zu überleben, wie er es tat.

Im Unterricht und den Pausen folgte er einer Liste von Regeln, die er selbst im Sommer vor Beginn der siebten Klasse ausgearbeitet hatte.

Erstens: Versuche erst gar nicht dir deine Freunde auszusuchen, wenn dann werden sie dich aussuchen. Es war ein Paradoxon, was er nie verstanden hatte, aber in der Mittelstufe galt es als äußerst uncool intelligent zu sein. Und mit solchen Voraussetzungen war es besser sich seinem Platz in der ungeschriebenen Hierarchie der Schüler bewusst zu sein.

Zweitens: Mische dich in den Pausen unter die Leute. Wenn erst einmal herauskam, dass er sich auf dem Klo oder in den leeren Klassenräumen versteckte, wären alle seine Bemühungen, sich so normal wie möglich zu verhalten, umsonst gewesen.

Drittens: Mache einen Bogen um die Schüler im Mittelpunkt. Selbst wenn sie versuchen sich mit dir anzufreunden. Wenn man einmal aus ihren Kreisen gefallen war, würde man nicht mehr aufstehen können.

Auch wenn sie sich nur aus drei Punkten zusammensetzte, war er stolz auf seine Liste. Nicht nur, weil er das System 'Teenager' verstanden hatte, sondern weil deren Umsetzung so gut funktionierte.
Er hatte keine Freunde, die ihn über seine Person ausfragten. In der Cafeteria hatte er einen Tisch an dem er sitzen konnte, ohne aufzufallen (zwar war das bei den Nerds, aber es war die Gruppe von Nerds, die so unscheinbar waren, dass sie zwischen den ganzen Facetten einfach nicht mehr auffielen). Und er wurde von jedem in Ruhe gelassen, konnte aber trotzdem gute Noten schreiben und seiner Mutter das Gefühl geben, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, ihn in die Schule zu schicken.

Bis zu jenem Montagmorgen, der sein System innerhalb eines Satzes über den Haufen geworfen hatte.

Als seine Mutter sich selbst davon überzeugt hatte, dass ihr Sohn lesen konnte, hatte sie, nachdem sie aus ihrer Ohnmacht aufgewacht war, augenblicklich alles in die Wege geleitet, um ihren Sohn so früh wie möglich, so weit, wie sie konnte, auf jeglichen Themengebieten, die sie kannte, auszubilden.

Mit vier nahm er erste Tanzstunden und Klavierunterricht und entwickelte ein erstes Gefühl für Rhythmus und Klang.
Mit viereinhalb begann sie ihm Farben vorzusetzen und beobachtete voller Faszination, wie er brav alles abzeichnete und malte, was er sah und schön fand (auch wenn es manchmal sehr abstruse Dinge waren, wie zum Beispiel seine Zahnbürste oder den Schneebesen aus der Küche).
Mit fünf begann sie die besten Privatlehrer heranzufahren, die ihn bis zu seinem neunten Lebensjahr auf den Stand eines Zehntklässlers gebracht hatten.
Mit sechs hatte er an jedem Nachmittag der Woche Training. Er lernte Fußball und Basketball zu spielen, Kampfsport, boxen, klettern, schwimmen, tanzen und fing irgendwann an jeden Morgen drei Kilometer zu joggen.

Ganz zu schweigen von all den Büchern, die seine Mutter ihm zu lesen gegeben hatte. Biografien, historische Wälzer, Jugendbücher (wenn auch nicht sonderlich viele, um genau zu sein erinnerte er sich nur noch an ein einziges im Detail), Romane, theoretische Aufzeichnungen von Naturwissenschaftlern, selbst Kochbücher gab sie ihn zu lesen. Und er verschlang sie Seite für Seite, jeden Tag ein bisschen schneller, und zitierte am Ende eines Buches seiner Mutter seinen liebsten Satz.

Über die Zeit und als er, nachdem er zu seinem zehnten Geburtstag probehalber den Schulabschluss geschrieben und bestanden hatte, hatten sich seine Fähigkeiten verblüffend erweitert. Er konnte drei Sprachen fließend sprechen, beherrschte neben dem Klavier, auch noch das Schlagzeug, die Gitarre und die Violine und wusste alles über die Geschichte der chinesischen Dynastien.

Und er hörte nicht auf.
Der Ehrgeiz immer mehr Wissen anzuhäufen war geweckt worden und er begann, trotz seines zarten Alters, sich selbst zu beurteilen über das, was er konnte oder was er noch nicht konnte. Vielleicht war es die Gier seiner Mutter immer mehr aus ihrem Sohn zu machen, vielleicht war es seine eigene Gier. Er wusste es nicht mehr. Er wusste nur noch, dass er besser werden musste.
In allem von dem er je gehört hatte.

In der Hälfte der achten Klasse musste er wählen, ob er seinen Schwerpunkt auf Kunst oder Musik legen wollte. Eigentlich hatte er sich aus dem Unterricht und solchen Entscheidungen nie sonderlich viel gemacht - er kannte den gefragten Stoff bereits und konnte ihn vermutlich selbst dann herunterbeten, wenn man ihn mitten in der Nacht wecken würde. Für ihn war seine Zeit in der Schule mehr eine Studie der Menschen und der Art und Weise, wie die Dinge auch vermittelt werden konnten, wenn man nicht über seine grandiose Aufnahmefähigkeit verfügte.

Aber vermutlich hätte er Musik gewählt, da er von all den Fachbereichen, die er ausprobiert hatte, dieses noch mit am interessantesten gefunden hatte, doch seine Mutter war dort anderer Meinung gewesen. Warum sollte er sich Dinge erzählen lassen, die er schon wusste, wenn er sich Dinge erzählen lassen konnte, die er zwar wusste, aber noch nicht zu schätzen gelernt hat?

Und weil er sich noch nie gegen seine Mutter gestellt hatte, tat er es auch in dieser Entscheidung nicht und belegte den zusätzlichen Kunstkurs.

Völlig unwissend, dass er mit dieser Entscheidung jede seiner drei Regeln brechen würde.

End of Spring  ⇢ TaekookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt