IX

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Es gab mehrere Dinge, die Jeongguk feststellen musste, als er eingeschult worden war und verzweifelt versuchte Parallelen zu den ganzen Jugend- und Psychologiebüchern zu ziehen, die er gelesen hatte.

Viele Dinge bezogen auf das Verhalten der anderen, eher wenige Dinge bezogen auf das Denken der anderen. Und da er auch nicht mehr Worte als notwendig mit seinen Mitschülern wechselte, hatte er es bis zu diesem Schuljahr nicht geschafft herauszufinden, was sie dazu brachte permanent über andere Menschen zu reden, wenn sie sich doch über so viel spannendere Sachen austauschen konnten. Wie zum Beispiel wo die Vesikel in den Prokaryoten herkamen, wenn doch angeblich keine anderen Zellorganelle vorhanden waren, die diese herstellten...

Nein. Viel interessanter war Seulgis neue Hose, Nayeons Lippenstift und Baekhyun und seine aktuelle Freundin. Als ob es ihre einzige Lebensbestimmung herauszufinden, wer im Moment auf wen einen sogenannten Crush hatte. (Ein sehr interessantes Wort, wie er herausgefunden hatte. Eigentlich war jemand, der einen Crush hatte, verliebt bis über beide Ohren, aber auch irgendwie nicht so richtig. Es hatte ihn viel Mühen gekostet zu verstehen, was es mit diesem Nicht-so-richtig auf sich hatte)

Er hatte sich noch nie eine einzige Sekunde lang Gedanken darüber gemacht, wie seine zwischenmenschlichen Beziehungen eines Tages auszusehen hatten. Er hatte es für unnötig gehalten.
Warum fanden die Menschen solch ein Gefallen daran sich über das Wetter zu unterhalten, einander anzustarren, sich hinterher zu schmachten oder stundenlang still schweigend nebeneinander zu sitzen und sich trotzdem nicht unwohl zu fühlen? Was war daran spannend? Interessant? Sinnvoll?
Wie genau brachte sie das weiter in den wirklich wichtigen Fragen des Lebens?

Er hatte sich ein Buch über den Nationalsozialismus in Deutschland mitgenommen für den Fall, dass ihm langweilig werden würde, traut sich jedoch nicht es herauszuholen, während er neben Taehyung in der Bahn sitzt und sie immer weiter aus der Stadt fahren. Häuser und Wohnblöcke verwandeln sich in Wälder und Felder und ihre beider Anspannung wächst von Station zu Station aus unterschiedlichen Gründen.

Taehyung fühlt sich unwohl, weil ihm nichts einfällt, was er sagen könnte, will allerdings etwas sagen, da er genau die Irritation seines Gegenübers zu spüren meint.
Nur dass diese Irritation nichts weiter ist, als die unausgesprochene Frage, ob es witzig wäre die Farbgebungen von Taehyungs Portraits in den Farben seines Geburtssteines zu halten. Und vielleicht zu einem drei prozentigen Anteil, ob die Villa vom beliebtesten Jungen des Jahrgangs tatsächlich so weit abseits liegt.

„Wann hast du Geburtstag?", fragt er laut ohne nachzudenken, schämt sich sofort dafür, doch Taehyung ist nur froh, dass die Stille gebrochen worden war.

„30. Dezember. Ziemlich beschissen. Im Sommer könnte man viel schöner feiern. Warum fragst du?"
„Nur so...", weicht er aus und senkt den Blick auf seine Schuhe. Er ist froh, dass das Rattern des Zuges das Knurren seines Magens übertönt. Er hat sich ausgerechnet, dass er heute nichts mehr essen darf, wenn er seinen Kalorienplan für Freitag einhalten möchte. „Wie weit ist es eigentlich noch bis zu dir?"

Taehyung wirkt nervös, als er antwortet.
„Eine Station und zehn Minuten Fußweg. Ist nicht weit. Ich hab mein Fahrrad am Bahnhof stehen."
Er scheint seinen Blick zu bemerken.
„Du setzt dich einfach auf meinen Lenker. Das klappt schon. Ich hab das mit meiner Schwester schon hundertmal gemacht."

Wieder schweigen sie und die nächste Station wird angekündigt.

„Wann musst du wieder Zuhause sein?"

End of Spring  ⇢ TaekookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt