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Von seinem fünften Lebensjahr an hatte er Privatunterricht bekommen und wurde nach und nach mit seinem zukünftigen Alltag bekannt gemacht, den seine Eltern für ihn vorgesehen hatten, sobald das erste Wort über seine Lippen gekommen war.

Natürlich hatte er damals noch keinerlei Vorstellung davon, weder was der Begriff Dysania bedeutete, noch weshalb seine Eltern so geschockt reagiert hatten, als er es mit vier Jahren auf der Rückseite der Zeitung seines Vaters gelesen hatte.
Aber er kannte die Geschichte dieses Morgens in und auswendig, bis auf jede Sekunde, bis auf jedes Detail genau. Vermutlich weil es das war, was dafür verantwortlich war, dass er zu dem Jeon Jeongguk geworden war, der jetzt, zehn Jahre später mit schweren Schritten, einem Rucksack voller Bücher, schwachen und von Muskelkater durchzogenen Beinen und zitternden Händen, die er in den Taschen seiner dunkelgrauen Strickjacke vergraben hatte, dem Strom der Schüler folgte, als gehört er zu ihnen, es aber gleichzeitig nicht tat. Nie tun würde.

Er war mit seinen zarten vier Jahren kein ungewöhnlicher Junge gewesen. Er war gewachsen, hatte nach und nach sein aufgeplustertes Gesicht verloren, (wenn auch sehr wenige) Haare auf dem Kopf bekommen und die Fähigkeit zu laufen und mit motorischen Feingefühl Bauklotztürme zu bauen erworben. Wenn man ihn gesehen hatte, hatte ihn jeder einen 'süßen kleinen Fratz' genannt und wenn man ihm beim Spielen beobachtet hatte, war einem das Herz aufgegangen.

Die einzige Abstrusität, die er aufzuweisen hatte, war die Entwicklung seiner Kommunikation. Während normale Babys ihre Emotionen zwischen Weinen und Lachen aufspalteten und so ihren Eltern anzeigten, wonach ihnen gerade der Sinn stand, hatte er nie auf diese primitive Weise seine Gefühle übermittelt.
Er hatte nie geschrien oder geweint, wenn ihn etwas gestört hatte.

Für eine ganze Weile hatte dieses Verhalten für große Missverständnisse bei seinen Eltern gesorgt, doch irgendwann kamen sie hinter das System ihres Sohnes. Wenn er unglücklich war, Hunger hatte oder die Müdigkeit seine Gedanken verwirrte, hielt er einfach inne in seinen Tätigkeiten und wartete. Wartete, bis es vorbei war.

Er rief nie nach seinen Eltern, wenn es soweit war. Er versuchte nie sich zu erklären, zeigte ihnen nie voller Stolz, was er gemalt hatte, während die Nanny auf ihn aufgepasst hatte.
Nur manchmal, wenn er gedacht hatte, er wäre allein, hörten sie ihn unverständliche Dinge vor sich hin brabbeln. So leise, dass der Raum seine Worte verschluckte, ehe sie bei ihnen ankommen konnten. Als wären sie etwas kostbares, dass nicht für jeden bestimmt war.

Seit jenem Morgen wussten seine Eltern allerdings, warum.

Auf der Rückseite der Zeitung war eine Statistik aufgeführt gewesen, wie viele Menschen in der heutigen Arbeitswelt an Dysania litten. Sein Vater hatte ihm zum Frühstück eine Schüssel mit Cornflakes hingestellt und ein Zimtcroissant aufgebacken, da seine Mutter Nachtschicht im Krankenhaus gehabt hatte (ansonsten hätte er einen Joghurt mit Obst bekommen). Sie wussten es nicht, aber er mochte Zimtcroissants sehr gern und freute sich immer darüber, wenn sein Vater sie von seiner Arbeit mitbrachte.

Bis heute war jedem, selbst ihm, unklar, wie er dieses Wort hatte entziffern können. Wie sich in seinem kleinen, vierjährigen Köpfchen die Laute der Schrift so zusammengeführt hatten, dass er ihren Klang erkennen und sie voller Faszination über jenes Erkennen letztendlich aussprechen konnte.

Selbsterklärend waren seine Eltern über alle Maßen überrascht gewesen, dass ihr kleiner Sohn, der immer so ruhig mit seinen Bauklötzen gespielt und in Bilderbüchern geblättert hatte, tatsächlich lesen konnte (wenn auch ein wenig holprig, da ihm damals natürlich noch niemand beigebracht hatte, dass bei einigen Wörtern die Laute der Buchstaben anders betont wurden).

Wenn er darüber nachdachte, an die Zeit zurückdachte - meistens, wenn er auf dem Weg zu Schule war, Bob und J's sehr oberflächlichen Gesprächen zuhörte und sich fragte, wann sein Leben begonnen hatte, so zu sein, wie es war - stellt er sich vor, was aus ihm geworden wäre, hätte er dieses Wort damals nicht laut ausgesprochen.

Hätte er es für sich behalten, so wie er jegliche Anzeichen von Emotionen für sich behalten hatte, würde er dann weniger nervös sein, als er an diesem Morgen zur Schule fährt?
Er weiß es nicht.

Er ist nicht normal - war es noch nie -, aber dieser Morgen hatte ihm die letzte Möglichkeit genommen, seine Eigenartigkeit als ein Geheimnis in seinem Herzen einzuschließen.

Aber jetzt ist es zu spät.

End of Spring  ⇢ TaekookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt