V I E R

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Irgendwann stand ich Jannis gegenüber und wir tanzten ein bisschen zusammen, aber ohne großartigen Körperkontakt zu haben, was ich sehr angenehm fand. Über seine rechte Schulter konnte ich Kirian und Mare erblicken, die sich vorsichtig anlächelten. Immer, wenn mein Kumpel ihr jedoch näher kommen wollte, wurde ihr Gesichtsausdruck abweisend und sie schob ihn von sich. Trotzdem schien sie nichts gegen seine Gesellschaft zu haben, allerdings wusste ich genauso gut, dass es Kirian frustrieren wird, da er heute nicht an sein Ziel kommen würde.

Über Jannis linker Schulter konnte ich sehen, wie Nael von Jarvis an die Wand gepresst wurde. Der kleine Blonde küsste ihn ziemlich intensiv und schob gerade seine Hand am Bauch des braunhaarigen in Richtung Hose herunter, während eben dieser mit seinen Händen über Jarvis' Hintern fuhr. Ich verstand noch immer das zwischen den beiden nicht, aber es ging mich ja auch nichts an. Doch eine leise Stimme fragte sich in meinem Hinterkopf, ob das immer so war und ob sie sich morgen noch in die Augen sehen konnten.

Jannis stupste mich an und deutete auf sein Handy, welches zu klingeln schien, und dann auf die Tür, woraufhin ich nickte. Im Vorbeigehen tippte er Mare auf die Schulter, die nach wie vor von Kirian belagert wurde, welchen er böse anfunkelte. Sie drehte sich zu ihrem besten Freund um, nahm seine Hand und verließ mit ihm den Raum. Kirian fand das augenscheinlich nicht so lustig, denn er drehte sich schwankend einmal um seine eigene Achse und kam dann auf mich zugetorkelt. Offensichtlich hatte er mehr intus, als ihm bekam, denn ein derartiger Gang trat bei ihm erst sehr spät auf. Meistens waren dies die Abende mit Filmriss.

Ehe ich mich versah, hatte er seine Arme um mich geschlungen und sah mich um Mitleid betend an. „Schie iss einfa weg..." Er hickste. „...weggeganggg!", beschwerte er sich, als könnte ich etwas dafür. Ich zuckte mit den Schultern. „Du wirst es schon überleben." „Neinnn! Ich brau... brauch mein Sexxx nam Kon..." Er guckte mich nachdenklich an, schien sich dann aber dagegen zu entscheiden, zu versuchen, das Wort zusammen zu bekommen. Heilige Meise, war er voll. Plötzlich grinste er mich an und zog mich noch enger an ihn. „Aber duuu bis ja noch freiiii." Ohne, dass ich nur im Entferntesten ahnen konnte, was abging, waren mit einem Mal seine Lippen auf meine gepresst. Erschrocken riss ich die Augen auf, aber als er dann auch noch seine Hüfte gegen meine drückte und leise stöhne, erwachte ich aus meiner Schockstarre und schob ihn von mir. Das war mein erster Kuss. Mein verdammter erster Kuss war mir gerade von meinem Bandkollegen und Kumpel im Vollsuff geklaut worden.

Ohne ein Wort zu sagen, quetschte ich mich an ihm vorbei, schnappte mir meine Jacke und verschwand durch die gleiche Tür wie Jannis und Mare. Ein spärlich beleuchteter Gang tat sich vor mir auf, aber ich brauchte frische Luft, also hastete ich weiter zur nächsten Tür, über der ein flackerndes Notausgangsschild hing. Dem Männchen fehlte der Kopf, und irgendwie fühlte ich mich grade nicht viel anders. Glücklicherweise tat sich die Dunkelheit der Nacht vor mir auf, als ich durch die Tür trat. Ich ging ein paar Schritte, dann setzte ich mich auf die Stufen und zündete mir mit zitternden Händen eine Zigarette an. Eigentlich hatte ich aufgehört zu rauchen, aber wenn ich extrem gestresst war, bekam ich jedes Mal einen Rückfall.

Nach ein paar Zügen beruhigte sich schließlich mein klopfendes Herz allmählich. Ich stieß den weißen Rauch in die klare Nachtluft und legte meinen Kopf in den Nacken. Über mir blitzten tausend Sterne und von der anderen Seite des Gebäudes hörte ich gedämpft die Klänge des Festivals. Mittlerweile waren die bekannteren Bands dran, die vier anderen hatten direkt vor uns gespielt. Ich überlegt, ob ich mich einfach unter die Leute mischen sollte, um mich abzulenken, entschied mich dann jedoch wieder dagegen. Lieber saß ich allein hier in der kühlen Dunkelheit als von lauten, schwitzenden Körpern umgeben zu sein.

Noch immer wollte ich nicht glauben, was passiert war. Klar, der erste Kuss ist jetzt auch nichts weltbewegendes, aber ich hatte nicht umsonst alle abgeblockt. Ich war einfach noch nicht bereit dafür. Für mich war es ein Ding großen Vertrauens. Natürlich vertraute ich Kirian, aber alles zwischen uns war immer rein freundschaftlich gewesen, höchstens noch brüderlich. Ich wusste, dass er das nüchtern nie gemacht hätte und dass es ihm wahrscheinlich auch leidtun wird, vorausgesetzt, er würde sich daran erinnern. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass er morgen früh nichts mehr wissen wird. Was wahrscheinlich auch besser so war, dann konnte es nicht so zwischen uns stehen. Ich gab mir die größte Mühe, die vergangenen fünf Minuten zu vergessen, aber irgendwie fühlte ich mich, als hätte er sich etwas von mir genommen, ohne zu fragen oder sich dessen bewusst zu sein. Das schwierige daran war, dass ich ihm aus diesem Grund nicht einmal böse sein konnte.

RaykWo Geschichten leben. Entdecke jetzt