Sommernachtsflügel

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Die Stimmung in Lucias Laden war wie immer mit Mystik geschwängert

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Die Stimmung in Lucias Laden war wie immer mit Mystik geschwängert. Das Einzige, was nicht in die klassische Optik des Geschäfts einer Wahrsagerin passen wollte, war Lucia selbst. Sie war ein dünne Gestalt, stets in ein casual-wirkendes Outfit ganz in weiß gekleidet. Sie wirkte wie ein rüstig gealterter Schwan, bestimmt schon bald siebzig Jahre alt, aber mit alterslosem Gesicht.

»Wie lange wird das dauern?«, fragte ich und gab mir Mühe, nicht allzu genervt zu klingen.

Lucia runzelte die Stirn, während sie gründlich die Karten mischte. »Mein lieber Asher, die Kunst der Tarotkarten darf nicht unterschätzt werden. Die Karten aus der Großen Arkana symbolisieren entscheidende Abschnitte und wichtige Ereignisse. Das Legen dieser Bilder ist eine uralte Kunst, die in allen Erdteilen vertreten wird.«

Das alles wusste ich bereits, weswegen ich innerlich die Augen verdrehte.

Lucia deckte langsam zehn Karten auf dem kleinen Tisch ab, eine nach der anderen. Dabei las sie ihre Bezeichnungen vor, auch wenn man diese auch ohne Probleme unter den Darstellungen lesen konnte und ich die Karten sowieso kannte. An verregneten Herbsttagen zog es April und mich oft hierher. Die feinen, teilweise fast unheimlichen Zeichnungen hatten uns von jeher fasziniert.

»Der Narr, der Hierophant, der Magier, die Liebenden, der Teufel, der Gehängte, der Turm, die Welt und die Kraft«, murmelte die Wahrsagerin meines ungewollten Vertrauens abschließend.

Ich betrachtete die kleinen Gestalten auf den Karten. Einige wirkten wirklich schaurig, besonders die mit dem Namen Der Gehängte; sie zeigte einen Mann mit weit aufgerissenem Schlund, der mit dem Kopf nach unten an ein Kreuz genagelt worden war. »Und was bedeutet das jetzt?«

»Fast alle diese Karten stehen für neue Erkenntnisse und Veränderungen«, erklärte Lucia nachdenklich und tippte einige Zeichen an. »Was ich sagen kann, ist, dass du sehr bald, wahrscheinlich am Anfang des Sommers, den Mann deiner Träume finden wirst. Deinen Seelenverwandten!«

Ich kratzte mit meinen Fingernägeln über meine Oberschenkel, wie ich es immer tat, wenn ich nervös war. »W-woher –«, setzte ich an, doch Lucia lachte, was mich erneut verstummen ließ.

»Ich bitte dich, Asher. Das halbe Dorf weiß, dass du schwul bist.«

Ich versuchte, eine Antwort auf diese Frage zu finden, doch – zum Glück! – redete die alte Wahrsagerin schon weiter. »Der Rest ist schwammig und kompliziert. Eure Liebe wird mit vielen schweren Entscheidungen verbunden sein – und du wirst in diesem Sommer erfahren, wer du wirklich bist, auch wenn dir diese andere Seite an dir nicht unbedingt gefallen wird.«

Ich lachte, ein weiterer Beweis dafür, wie peinlich mir diese Situation war. Mein Coming Out war vor sechs Monaten gewesen und deutlich besser gelaufen, als ich es mir vorgestellt hatte. Mein Umfeld hatte eigentlich fast gleichgültig aufgenommen. Doch in einem verschlafenen Kaff an der irischen Küste wie diesem hier erwartete ich noch immer, dass die Leute zu Mistgabeln greifen würden, sobald sie das Wort Homosexueller hörten.

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