Im Rauschen der Wellen ist Cascadia zu Hause. Sie liebt den salzigen Geschmack von Meerwasser auf ihren Lippen und wie ihre Haare sich im milden Sommerwind wellen, nachdem das Meer sie aufgewirbelt hat. Jedes Jahr, wenn der Frühling in den Sommer übergeht und der Mohn seine roten Blüten zeigt, kommt Cascadia nach Nantucket, um die Sommermonate auf der kleinen Insel an der Nordostküste der Vereinigten Staaten zu verbringen.
Obwohl es bereits später Nachmittag ist, brennt die Sonne heiß und bringt den Teer der Straßen zum Erweichen. Cascadia trägt keine Schuhe, das tut sie nie. Viel zu sehr mag sie das Gefühl, die Natur an ihren blanken Fußsohlen zu spüren, und den Schmutz, der sich den Tag über ansammelt, am Abend von den Wellen wegspülen zu lassen. Sie weiß, dass es so sein soll. Dass sie am Ende immer das Meer wiederfindet.
Doch noch muss das Meer sich gedulden. Cascadia tänzelt auf Zehenspitzen über das brennend heiße Kopfsteinpflaster, bis die ersten Gebäude sich vor ihr auftun und weite Schatten auf die Straßen werfen. Bis in die Innenstadt ist es jetzt nicht mehr weit, ein Weg, den ihre Beine leicht und gerne gehen. Je näher Cascadia ihrem Ziel kommt, desto dichter werden die Gebäude und Straßen. Alle Häuser auf Nantucket sind aus Backstein oder Holz und vor vielen Jahren hat man sie quäkergrau gestrichen. Wer heute ein Haus bauen will, muss sich streng an diese Vorschriften halten. Cascadia hat diese Dinge vor einigen Jahren in einer Urlaubsbroschüre über Nantucket gelesen und kann seitdem nur noch daran denken, dass eine ganze Insel nur aus grauen Häusern besteht. Dort, wo Cascadia herkommt, gibt es so etwas nicht - Einfarbigkeit. Aber die Menschen hier leben sowieso in ihrem eigenen Rhythmus und Cascadia versucht, sich diesem Rhythmus anzupassen wie die Fische im Ozean der Strömung. So langsam beginnt sie zu verstehen, wie das Inselleben läuft. Am frühen Morgen gehen die Leute spazieren oder fischen und wer nicht arbeiten muss, wälzt sich in der Mittagssonne am Strand. Nachmittags wimmelt es in der Stadt dann von Touristen und obwohl Cascadia irgendwie selbst eine Touristin ist, vergleicht sie sich nur ungern mit diesen kaufwütigen Festländlern. Die wollen alles, was sie in ihre Finger bekommen und lassen den Verpackungsmüll dann am Strand liegen, wo die Wellen ihn ins Meer spülen. Vielleicht ist es das, was Cascadia am meisten von den Menschen hier unterscheidet.
Dieses Jahr möchte sie sich jedenfalls einige Bücher aus der Bibliothek ausleihen. Moby Dick von Melville vielleicht oder der Roman von Poe, der auf Nantucket spielt. Cascadia will so weit wie möglich weg von der Realität, ein wahrer Sommer der Träumereien. Doch auch wenn sie ihre Nase noch so gerne in einen dicken Roman steckt und erst am späten Abend wieder aus der Geschichte auftaucht, so darf sie nicht vergessen, dass sie jedes Jahr aus einem Grund nach Nantucket kommt. Und dieser Grund hat oberste Priorität.
Mit einem Seufzen verbannt Cascadia diesen Gedanken aus ihrem Kopf. Mittlerweile ist sie in der Stadt angekommen und genießt es, im regen Treiben der Masse unterzugehen, fast zu verschwinden. Cascadia ist gerne unter Menschen, am liebsten, wenn niemand sie bemerkt. Barfuß auf den heißen Steinen drängt sie sich durch die Menschenmassen, duckt sich mal hier unter einem Arm hindurch und weicht mal dort einem kleinen Kind aus, das stehen geblieben ist, weil es die Kugel Eis aus der Waffel verloren hat. Noch einige Meter weiter kann Cascadia das Schreien des kleinen Jungen hören und die sanfte Stimme der Mutter, die beruhigend auf ihn einredet. Für einen klitzekleinen Moment muss Cascadia an ihre eigene Mutter denken und ein trauriges Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus. Doch dann trifft etwas Hartes sie mit ungeahnter Schwungkraft am Kopf und reißt sie zu Boden. Ein stechender Schmerz zuckt durch ihre Schläfen, als ihr Kopf unsanft auf dem Gras am Rand der Promenade aufkommt.
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Sommernachtsträume
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