4. Kapitel

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Ich schlage meine Augen auf. Es ist noch früh und draußen ist es noch dunkel. Ich erkenne eine verschwomme Gestalt vor meinem Bett.

Ich reibe mir die Augen und vor staunen klappt mir der Mund auf. ,,Sally?", frage ich verwirrt. Sie setzt sich auf die Kante meines Bettes.

,,Ich hab von Dad gehört und bin sofort hier her gefahren.", beginnt sie. Ich starre sie an, die Erinnerung kommt schlagartig zurück. ,,Ich dachte es wäre ein Traum!", flüstere ich, doch Sally schüttelt traurig den Kopf.

Das kann nicht sein. Erneut schießen die schrecklichen Bilder von Dad durch meinen Kopf. Sein Gesicht ist vor Angst verzerrt, die Augen weit aufgerissen. Ein dunkles, tiefes Loch klafft in seiner Brust. Weinrotes Blut fließt aus der Wunde und tränkt sein T-shirt.

,,Sie haben ihn?", ich kann es immer noch nicht fassen. Meine Gedanken wirbeln in meinem Kopf, Bilder huschen vor meinem inneren Auge vorbei. Es ist passiert, was nie hätte passieren sollen, was ich nicht für möglich gehalten habe. Ich habe immer daran gedacht, doch vorstellen konnte und wollte ich es mir nicht.

,,Es kam heute nachmittag in den Nachrichten. Erst tauchte ein Bild vom Kolium auf, die Bomben haben es schwer getroffen. An der Ostseite war es fast völlig zerstört. Die Nachrichtensprecherin hat die Verluste aufgezählt, dann ist das Bild umgesprungen und ich sah Dad. Er sah verzweifelt und niedergeschlagen aus. Er saß gefesselt auf einen Stuhl, hinter ihm standen vier Wachen. Ich habe so einen Schock gekommen.", erzählt Sally.

,,Geht es ihm gut?", frage ich sofort. Sally verzieht nachdenklich das Gesicht. ,,Wenn du mit ,,gutgehen" meinst, dass er nicht verletzt ist, dann ja." Ich schlucke: Er wurde gefasst. Er kommt nun ins Gefängnis oder noch schlimmer.

,,Wie konnte das passieren?", frage ich mich. Sally legt den Kopf schief und sieht mich traurig an. Nun kann keiner mehr sagen: Alles wird gut! Dad ist weg, wahrscheinlich für immer. Was er getan hat ist unverzeihlich und bedeutet Gefängnis auf Lebenszeit.

Ich frage mich, was ich in seiner Situation gemacht hätte. Wahrscheinlich nichts. Er wird bestimmt von zehn bis zwanzig Wächtern bewacht und sitzt gefesselt mitten im Kolium. Obwohl ...

,, Er ist im Kolium? Wie blöd ist die Regierung denn? Dads Terroristengruppe wird ihn um jeden Preis daraus holen wollen. Sie werden nicht nur Bomben benutzen und sie werden alle töten!", überlege ich laut. Sally schüttelt schnell den Kopf. ,,Nein,  er ist nicht im Kolium. Er ist ins Krinzet verfrachtet worden.", erzählt sie mir. Mir klappt der Mund auf.

Das Krinzet? Das ist das Hochsicherheitsgefängnis aus dem noch nie jemand ausgebrochen ist. Dort sind über hunderttausend Wächter und sogar die neusten Roboter mit gefährlichen Waffen. Wenn man dort drin ist gibt es kein Entkommen mehr. Dort bleibst du bis du stirbst oder der Richter dich raus lässt, doch dass ist in den letzten tausend Jahren nicht mehr passiert. Wie konnte Dad sich nur in diese Lage bringen? Ganz einfach, er ist ein Terrorist. Ein sehr gefährlicher sogar.

Plötzlich steigt Wut in mir auf, unkontrollierbare Wut, die ich mir überhaupt nicht erklären kann. Wut auf Dad.

Er hat fast sein ganzes Leben lang Leute umgebracht, hat sie gefoltert. Und es waren nicht nur Reiche, Adlige oder welche von der Regierung. Nein - es waren auch unschuldige Menschen und Kinder. Er hat keine Gnade gezeigt. Und alles nur um die Regierung zu stürzen. Wollte er je in seinem Leben den Armen ein Recht verschaffen? Oder wollte er nur selbst an die Macht kommen?

Doch da wird es mir wieder klar. Ich hatte eher einen Grund wütend auf mich selbst zu sein. Ich war kein Stück besser als Dad, kein einziges Stückchen. Ich baute ihm die Bomben, die Schusswaffen. Ich hackte mich in die Computer der Regierung um sie abzulenken, während Dad sie überfallen konnte. Ich war sogar selbst mal bei einem Anschlag dabei gewesen und habe fast eine Bombe auf die Menschenmenge geworfen!

,,Ich bin ein schrecklicher Mensch.", mir rollen die Tränen über die Wangen. Sally sieht mich erstaunt an, dann schüttelt sie den Kopf. ,,Was redest du denn da?", fragt sie schockiert. ,,Es stimmt.", gebe ich schluchzend zurück. ,,Ich habe beinahe tausende von Menschen umgebracht und habe Dad geholfen die halbe Stadt zu zerstören."

,,Aber die Menschen leben noch, nicht wahr?", versucht sie mich umzustimmen.

,,Was spielt das denn für eine Rolle?", frage ich sie und vergrabe mein Gesicht in meinem Kissen. Sally gibt es auf und steht von Bett auf. ,,Ich suche Mom, okay?", meint sie nur und verschwindet.

,,Ich bin ein schrecklicher Mensch. Genau wie Dad. Ich sollte jetzt neben ihm sitzen und in dem sichersten Gefängnis auf der Erde verrotten.", schiefe ich, die Tränen strömen nur so aus meinen Augen und schon nach einigen Sekunden ist mein Kissen klatsch nass.

Prisoner - Die GefangeneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt