"Ich bin ein Individuum. Weit mehr als jede ausgedachte Figur aus irgendeiner Erzählung. Ich atme. Ich fühle. Ich lebe. Und das jeden Tag. Ich esse. Ich arbeite. Ich schlafe. Ich bin wie du. Ich renne. Ich springe. Ich klettere und fliehe. Ich stelle mich. Ich schreie. Ich erschaffe und zerstöre. Ich mache das, weil ich es machen kann. Und das mein Leben lang."
Seufzend starrte ich auf die graue Betonwand vor mir und las den Spruch, der in großen schwarzen Buchstaben an die Wand vom Bahnhof geschrieben war, erneut durch. Nervös fing ich an mit meinem Bein auf und ab zu wippen, dabei erzeugte mein Absatz ein regelmäßiges Klack-Geräusch auf dem harten Betonboden, welches über das Gleis hallte. Mein Blick fiel zum hundertsten Mal an diesem Tag auf meine Armbanduhr; noch acht Minuten. Wieder blickte ich an die Wand vor mir, mit der Hoffnung, durch das wiederholte Lesen würde der Zug schneller kommen und mich meinem Ziel näher bringen.
Mein Ziel war Köln, von Karlsruhe aus braucht man über Mannheim, ein bisschen mehr als zwei Stunden mit dem Zug, sofern alles glatt laufen würde und es keine Pannen geben würde. Und genau das war der Grund für meine Nervosität; die Unzuverlässigkeit der deutschen Bahn. Es war ein Tag wie jeder andere auch und doch unterschied er sich vom Rest der Woche, denn heute würde ich nicht wie gewohnt in mein Büro fahren - sondern in das Büro des Bürgermeisters von Köln, um den Entwurf für den neuen Anbau an die Stadthalle vorzustellen. Insgesamt hatten mein Team und ich über drei Monate an dem Konzept gearbeitet und mit dem bevorstehenden Termin - würde alles stehen oder eben fallen, wie man bekanntlich sagte. Allerdings war ich mir sicher, dass wir den Auftrag bekommen würden. Ich kannte die Konkurrenz und wusste, dass niemand so hart gearbeitet hatte wie wir - wie ich. Nervös öffnete ich meine Tasche, nur um festzustellen, dass alle nötigen Unterlagen darin lagen.
Schon seit ich klein war, war es mein Traum gewesen eines Tages die Skyline einer Stadt durch eines meiner Gebäude zu verändern, langanhaltend zu prägen. Etwas schaffen, das bleibt - der Gedanke faszinierte mich unglaublich, vor allem in unserer vergänglichen und schnelllebigen Welt.
Wieder fiel mein Blick auf die Uhr; noch vier Minuten. "Ich bin wie du." wiederholte ich gedanklich. Ich musste ein wenig lachen, woher sollte der Autor das wissen. Niemand ist wie ich - genauso wenig, wie jemand wie er sein konnte. Kopfschüttelnd versuchte ich meine Gedanken auf den bevorstehenden Termin zu fokussieren, doch das funktionierte nicht so richtig - immer wieder flogen meine Augen zwischen dem Text und der Uhr hin und her. Unruhig zog ich meine weiße Bluse unter meinem grauen Blazer zurecht und richtete meinen Kragen.
Noch drei Minuten. Ich verdrehte die Augen, hätte ich bloß das Auto genommen - dann wäre mir dieses unerträgliche Gewarte erspart geblieben. Allerdings hatte ich nicht ohne Grund entschieden, mit dem Zug zu fahren. Ich wollte in der Zeit meine Präsentation durchgehen und sicherstellen, dass später alles glatt laufen würde und das ging nun mal nicht im Auto. Verrückt wie der ganze Stress der letzen Wochen und Monate genau auf diesen Tag hingezielt hatten und jetzt alles von der Präsentation abhing.
Eine Durchsage ertönte und riss mich damit aus meinen Gedanken.
"Gleis 2 Einfahrt ICE 370 nach Berlin Hauptbahnhof - über Mannheim Hauptbahnhof, Abfahrt 7:18 Uhr. Vorsicht bei der Einfahrt."
Endlich, ich sprang auf und schulterte meine Tasche. Mit einem letzten Blick auf die Wand und den mysteriösen Spruch, stieg ich in den Zug ein und begab mich auf die Suche nach meinem Sitzplatz in der ersten Klasse.
Platz 44 - als ich ihn gefunden hatte, starrte ich einige Sekunden ungläubig zwischen der Anzeige über den Sitzen und meinem Handy hin und her. Das musste ein Fehler sein, ich hatte einen Fensterplatz gebucht und keinen am Tisch. Seufzend drehte ich mich um, doch der Zug schien voll ausgebucht und der Platz war nun mal reserviert. Also ließ ich mich seufzend am Fenster nieder, ergab mich damit meinem Schicksal und stellte meine Tasche auf den leeren Sitz links von mir. Natürlich hatte ich zwei Plätze reserviert, in weiser Voraussicht - immerhin wollte ich in Ruhe die Präsentation durchgehen und gegebenenfalls letzte Änderungen vornehmen und keine nervigen, ablenkenden Gespräche mit Mitreisenden führen.
DU LIEST GERADE
Amor Est Vitae Essentia
Romance"Ich mochte es in Camilles Nähe zu sein, ich mochte es ihr Lachen zu hören, ihre Lippen auf meiner Wange zu spüren. Ich mochte sie. Sehr sogar." Manchmal kommt alles anders; man begegnet bestimmten Menschen und auch wenn es auf den ersten Blick komp...