𝕂𝕒𝕡𝕚𝕥𝕖𝕝 𝟚𝟚-𝕃𝕪𝕣𝕒

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»Lyra!« Jemand stupste mich grob in die Seite. Das wäre gar nicht nötig gewesen, bei der Dringlichkeit in Gales Flüstern war ich sofort hellwach. »Bleib. Leise.« Gale lugte von außen in den Unterschlupf und blickte mich ernst an. Ich verstand und nickte knapp. Gale huschte davon.

Jetzt war ich alleine. Wo war Rory? Vermutlich hatte er gerade Wache gehalten und Gale geweckt, als er Gefahr erkannt hatte. Und da wir nicht alle drei unter den Ästen Platz hatten, versteckten die beiden sich woanders. Oder...Nein, sie würden mich nicht hier zurücklassen. Bestimmt nicht.

Eine Weile lag ich einfach im Dunkeln und lauschte, aber alles was ich hören konnte, war mein eigener Atem und zwischendurch ein leises Knacksen unter mir.
Ich lag lange,lange Zeit im Dunklen. Mit jeder verstrichenen Minute wurde ich wütender.
Da draußen war nichts Gefährliches. Gale und Rory hatten mich ausgetrickst. Ich biss die Zähne aufeinander. Sie hatten mich ganz alleine und hilflos zurückgelassen. Aber nicht mit mir. So leicht konnten sie mich nicht loswerden. Ich würde sie finden.Rasch krabbelte ich aus dem Unterschlupf und rappelte mich auf.

In der kühlen Nachtluft lag ein leicht süßlicher Duft. Der Mond tauchte die Lichtung in ein silbriges Licht. Ich sah mich um. Keine Spur von den Hawthornes. Plötzlich machte meine Wut Verzweiflung Platz. Ich war alleine. Weder kämpfen noch sonst irgendetwas Hilfreiches lag mir. Ganz auf mich allein angewiesen würde ich nicht lange überleben. Schluss jetzt, dachte ich. Genau deshalb muss ich Gale und Rory finden, also los.

Da es vermutlich nicht besonders schlau wäre, laut nach ihnen zu rufen, suchte ich nach irgendeinem Hinweis wie einem abgeknickten Ast. Glücklicherweise spendete der Mond heute genügend Licht, so dass ich das meiste erkennen konnte. Auf der Suche nach einer Spur starrte ich in den Wald vor mir. Bei Nacht sah er ganz schön bedrohlich aus. Plötzlich schien der Mond für einen kurzen Moment weniger hell zu strahlen. War eine Wolke am Himmel? Als ich den Kopf hob, um zu schauen, war das Licht bereits wieder genauso hell wie davor.

Ich senkte den Blick wieder, aber jetzt fühlte ich mich bedroht. War da ein leises Geräusch gewesen? Da. Schon wieder. Es klang ein wenig wie eine Krähe beim Fliegen. Flügel, die die Luft durchschnitten. Nur anders. Eleganter. Lauter. Mächtiger. Nahe.

Sehr nahe. Wieder hatte ich weniger Licht. Viel weniger Licht.

Ich legte den Kopf in den Nacken. Das erste, was ich erblickte, war Schwärze. Dann konnten meine Augen langsam Umrisse ausmachen.

Flügel. Ein Schweif. Ein mächtiger Kopf. Zwei orangefarbene Augen, jedes so groß wie meine Faust. Einen kurzen Moment lang blickten der Drache zehn Meter über mir und ich uns nur an.

Irgendjemand rief nach mir, aber ich nahm es kaum wahr. Ich hatte mir Drachen immer größer vorgestellt. Dieser hier war an der Schulter um die zwei Meter hoch und ohne seinen Schwanz fünf Meter lang. Allerdings war dieser fast ebenso lang wie der Körper, und von der Flügelspannweite sollten wir erst gar nicht reden. Okay, der Drache war eindeutig groß genug, vor allem, da er mir vermutlich nicht freundlich gesinnt war. Als hätte er meine Gedanken gelesen ,riss er das Maul auf und entblößte eine Reihe von fingerlangen Zähnen.

Meine Muskeln schrien, ich solle mich endlich bewegen, aber ich war wie gelähmt. Etwas im Maul des Drachen schien zu leuchten. Als das Tier schließlich Feuer spie, packte mich jemand am Arm und zog mich grob zur Seite. Dennoch begann einer meiner Arme unglaublich stark zu schmerzen. Mein rechter Arm fühlte sich an, als stünde er in Flammen. Verdammt, der Drache hatte mich erwischt! »Rory!«, hörte ich Gales Stimme wie aus weiter Ferne. »Nimm Lyra!«, schrie dieser. Dann wurde ich abermals grob gepackt und über Gales Schulter geworfen, bevor die beiden Brüder mit mir losrannten.

Scheinbar hatten sie mich doch nicht vergessen.

Ich kniff einfach die Augen zusammen und hielt still. Äste und Blätter streiften mich immer wieder.

Die Tribute von Panem-Der Gesang der NachtigallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt