Kapitel 6: Das Grauen im Wald

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Cass sträubte sich lange dagegen, Trish mit zu dem Filmabend zu begleiten. Sie vertraute den Männern einfach nicht. Andererseits, wenn sie ihnen nicht vertraute, konnte sie es dann mit ihrem Gewissen vereinbaren, Trish allein gehen zu lassen? Seufzend gab sich Cass einen Ruck und folgte Trish schließlich doch nach Feierabend und einer kurzen Dusche zu einer Holzhütte außerhalb der Stadt. 

Wenn man eine solch ungeordnete Anordnung an Gebäuden aller möglicher Baustile überhaupt so nennen konnte. Cass war wieder fasziniert, wie frei sich die Wandler hier austoben konnten. Anscheinend hatte der Anführer dieser Gemeinde eine lockerere Haltung gegenüber allem bunten, neuen oder verrückten. Die Straßen waren kaum von Laternen beleuchtet, vielmehr brannten vereinzelt kleine Lampen vor den Häusern. Es gab kleine, sehr schlicht gehaltene Holzhütten, die wohl kaum mehr als zwei Zimmer beherbergten. Dann wiederum standen große verwinkelte Paläste und Häuser aller Fassetten dazwischen.

Skeptisch beäugte Cass das, im umliegenden Waldgebiet fast verschwindende, zweistöckige Haus mit Veranda, auf das Trish zielstrebig zusteuerte. Um jemanden verschwinden zu lassen, wäre es der beste Ort, schoss es Cass unwillkürlich durch den Kopf, woraufhin ihre Füße auch sogleich den Boden nicht mehr verlassen wollten, um die letzten Schritte zu gehen. Trish bemerkte überrascht ihre Anspannung. 

„Komm schon, Cass. Das wird lustig." Sie zog an dem Arm der Polarfuchs-Wandlerin, aber diese rührte sich einfach nicht.

„Ich kenne Quinn und Jarin schon seit zehn Jahren. Sie beißen nicht, ohne vorher zu fragen", scherzte sie, um Cass Mut zu machen. Doch der Scherz ging sichtlich an Cass vorbei.

„Komm, du wirst sehen, sie sind völlig in Ordnung. Vertrau mir." Mit der besten Imitation eines Welpenblickes starrte die mehr als einen Kopf größere Frau Cass an und sah dabei aus, als hätte sie eine Zitrone im Ganzen verschluckt. Cass musste auflachen bei dem Anblick und schaffte es dann auch tatsächlich wieder, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie vertraute Trish, auch wenn der Boxsack auf der Veranda, an dem sie auf dem Weg zur Tür vorbeigingen, mehr als gruselig war.

*

Leider war der Horrorfilm, den Trish ausgesuchte nachdem sie die Pizzen vom Lieferservice verspeist hatten, auch nicht gerade mit Fröhlichkeit gespickt. Vielmehr saß Cass in eine Ecke der schwarzen Ledercouch gedrängt da und betete, dass er schnell ein Ende fand. Ein graues Kissen hielt sie sich mit der linken Hand vors Gesicht und stopfte sich konstant mit der rechten das himmlisch schmeckende Popcorn in den Mund, das Trish als Nachtisch zu Paprika-Peperoni-Pizzen gemacht hatte.

Kurz lugte sie hinter dem Kissen hervor und sah einen ziemlich blassen Quinn auf dem ebenfalls schwarzen Sessel sitzen. Seine Finger waren in die Lehnen gekrallt. Jarin saß auf ihrer Rechten neben Trish, die eine natürliche Barriere zwischen ihnen bildete und den Film sichtlich zu genießen schien. Sie jubelte und fieberte mit dem Massenmörder mit, was die ganze Situation irgendwie noch gruseliger machte.

An der Stelle, an der die hilflosen Jugendlichen die Tierzwinger im Keller entdeckten, wurde es Cass dann doch zu viel und sie verschwand mit der Ausrede noch Popcorn holen zu wollen in der Küche. Dort angelangt, nahm sie erst mal einen zittrigen Atemzug, stellte die Schüssel auf der Kücheninsel ab, schloss die Augen und klemmte sich die unruhigen Hände unter die Achseln. Zwanghaft versuchte sie sich an ein Bild der Ruhe zu erinnern. Unwillkürlich erschien das Bild ihres kleinen Refugiums vor ihren Augen. Das mit flicken bestickte Sofa, der Couchtisch und die Küchentheken auf denen Teller mit bunten Cupcakes standen. Langsam spürte sie, wie ihr panischer Herzschlag ruhiger wurde.

„Kleine?" Dieses eine Wort machte ihren ganzen Fortschritt ruckartig zunichte und sie fand sich nur einen Wimpernschlag später auf der Kücheninsel hockend wieder. Ihre Augen fixierten die Silhouette im Türrahmen, die auch sogleich ins Zimmer trat. Jarins Hände waren in einer abwehrenden Haltung erhoben.

„Alles okay? Du sahst etwas blass aus."

„Ja", brachte sie mit unsicherer Stimme heraus. Leicht beschämt, wegen ihrer Reaktion auf sein Eintreten, kletterte sie von der Kücheninsel herunter. Cass schielte an ihm vorbei, hatte aber keine Möglichkeit wieder ins Wohnzimmer zu flüchten, da diese Tür, der einzige Weg dahin darstellte. Und Jarin verschwand zu ihrem Verdruss auch nicht einfach aus ihrem Sichtfeld, als sie es sich vorstellte.

„Ich werde jetzt zum Kühlschrank gehen und mir ein Bier nehmen", sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten und wollte ihr die Chance geben, einen kleinen Rest ihrer Würde zu behalten. Komischerweise bewegte sich der Panther-Gestaltwandler nach seinen Worten immer noch keinen Schritt. Vielmehr schien er auf etwas zu warten. Cass Zustimmung vielleicht? Sie nickte, um zu versichern, dass sie seine Absicht zur Kenntnis genommen hatte und tatsächlich trat der schwarzhaarige Kerl nun auf den Kühlschrank zu. Ihr Blick hielt ihn die ganze Zeit gefangen, darauf bedacht jedwede Gefahr oder ruckartige Bewegung als Anlass zu nehmen, mehr Abstand zwischen sie beide zu bringen oder auch bei einer Gelegenheit den Raum mit den Beinen in den Händen zu verlassen. Aber Jarin gab ihr keinen Grund dafür.

„Auch eins?", fragte seine dunkle Stimme, den Kopf hinter der Kühlschranktür verschwunden. Aus einem Bauchgefühl heraus bejahte Cass, legte den Mantel der Skepsis jedoch nicht ab. Neugierig nahm sie die silbrige Dose entgegen und folgte Jarins Beispiel, diese mit einem zischenden Geräusch zu öffnen. Er prostete ihr zu und sie erwiderte es. Dann nahm sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Schluck von dem Getränk, von dem sie schon so viel gehört hatte... und spuckte es auch sogleich auf den schwarz-weißen Küchenboden. Bestürzt schoss ihre freie Hand zu ihrem Mund und ihre Augen starrten auf den schaumigen braunen Fleck auf der weißen Fließe. Jetzt würde er sie garantiert aus seinem Haus werfen. Doch zu ihrer Überraschung schallte sein heiteres Lachen durch die Küche.

„Ruhe auf den billigen Plätzen, es wird blutig! Da will ich nichts verpassen!", schrie Trish protestierend. Quinns hinterhergeworfenes „Ich aber schon, würg!", ließ nun auch Cass schmunzeln. Ihre Gesichtsfarbe hatte derweil die Röte einer reifen Tomate überschritten und sie wünschte sich, im Boden zu versinken.

„Dein erstes Bier, oder?" Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, die Cass aber trotzdem kleinlaut beantwortete, während ihr Blick beschämt überall  in der Küche umherhuschte.

„Du kannst versuchen dich an den Geschmack zu gewöhnen oder ich schaue mal ob Trish hier irgendwo etwas anderes, alkoholisches gebunkert hat."

„Nein, mach dir wegen mir keine Umstände", wies sie das Angebot zurück, nippte am bitteren Getränk und schaffte es sogar, nur minimal das Gesicht zu verziehen. Dabei fühlte sich ihre Zunge mittlerweile fast schon pelzig an.

„Wie du meinst", schmunzelte Jarin und verschwand dann endlich im Wohnzimmer. Dabei hatte sie gerade angefangen sich allmählich in seiner Gegenwart wohlzufühlen. Trishs verzückte Ausrufe schallten aus dem Raum, gefolgt von dem Geräusch einer Kettensäge. Cass beschloss, nicht so schnell zu den anderen zurückzukehren. Vom Horrorfilm hatte sie sowieso genug. Sie grübelte lieber, das grüne Etikett auf der Dose anstarrend, über das komische Gefühl in ihrem Bauch nach. Selbst das Popcorn war vergessen.



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