Gespannte Stille kehrte ein, nachdem alle Trishs Käse-Sandwichs verspeist hatten, die diese mit Quinn in der Küche zubereitet hatte. Niemand stellte die Frage in den Raum, die, wie Cass wusste, ein jedem durch den Kopf ging und auf die nur sie die Antwort kannte. Unbehaglich zupfte sie an ihren Fingerspitzen. Die junge Frau ließ ihren Blick durch die Runde schweifen und wappnete sich für die Erinnerungen, denen sie sich ein weiteres Mal in ihrem Leben stellen musste. Cass hatte sich nicht oft Gedanken gemacht, wie sie es formulieren sollte. Ihr Erlebtes und die Gründe, die sie an diesen Ort geführt hatten - zu dieser Zeit, mit diesen Personen, die gespannt darauf warteten, dass sie ihnen alles erklärte – all das in Worte zu fassen. Es war verdammt schwer. Tatsächlich hatte Cass sich schon seit langem viel zu sehr vor dem großen Unbekannten gefürchtet, dass sich mit ihrer Geschichte bahn brechen würde.
Jetzt schien es doch irgendwie ganz leicht dem einen Stein einen Schups zu geben, der alles Weitere in Rollen bringen würde. Es bedurfte nur eines einzigen Satzes, den sie bestärkt durch Jarins unmittelbare Präsenz über die Lippen brachte.
„Ich bin im Zeugenschutzprogramm." Quinns Augen weiteten sich leicht, ob ihrer Verkündung und Jarin schien die Luft angehalten zu haben. Einzig Trishs Gesicht zeigte ein triumphierendes Lächeln, dass Cass verwirrte.
„Dachte ich mir irgendwie schon. Jenkens hat sich gleich, nachdem er dich in Zivil abgesetzt hatte, damit Gran dir die Wohnung zeigte, in den Laden begeben, um sich einen Cappuccino und drei Kirschschnecken zu schnappen. Da habe ich schon geahnt, dass etwas im Busch ist." Irgendwie fiel Cass durch dieses Geständnis einen Stein vom Herzen. Hatte Trish sie, obwohl sie vermutete, dass sie in irgendein Schlamassel mit dem Gesetz verwickelt war, doch nicht anders behandelt. „Aber nun erzähl schon. Warum Zeugenschutz? Hast du einen Serienkiller demaskiert? Warst du in eine Geiselnahme durch einen Psychopathen verwickelt oder..."
„Trish", war Jarins ungehaltene Stimme zu vernehmen. Im gleichen Atemzug wurde sein Griff um Cass Taille enger. Da schien der Füchsin aufzugehen, dass sie gerade eine Grenze überschritten hatte. „Entschuldige", meinte sie und sah schuldbewusst nach unten.
Cass Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln: „Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen, Trish." Ihre Hand legte sich über die von Jarin, um Kraft für ihre Geschichte zu finden.
„Ich wurde ins Maureen-Rudel geboren." Kurz ließ sie diese Aussage in der Luft hängen und die drei ihre eigenen Schlüsse ziehen.
„Das Maureen-Rudel ist doch ein reines Wolfsrudel", stellte Quinn leise fest. Zustimmend nickte Cass. „Meine Mutter kam von außerhalb und von ihr habe ich auch mein Tierwesen. Sie starb kurz nach meiner Geburt und ich wurde Teil des Rudels, in dem mein Vater lebte."
„Lebte?" Es war keine wirkliche Trauer, die sich in Cass breitmachte, als sie weitererzählte. Vielmehr Bedauern, die Person, die sie eigentlich hätte in Schutz nehmen sollen, erst so spät wirklich kennen gelernt zu haben. Viel zu spät. „Er wurde vor etwa drei Monaten ermordet." Grabesstille war zu vernehmen, als tiefe Bestürzung sich auf ihren Gesichtern breitmachte. Jarin zog sie näher zu sich, um ihr vermutlich Trost zu spenden, doch sie wehrte seine Bemühungen mit einem Kopfschütteln ab. „Es ist nicht so, dass ich ihn gut gekannt hätte. Klar, er war mein Vater, aber das hat mir in meiner Kindheit nicht viel geholfen. Und dass der Polarfuchs inmitten von Wölfen auch noch diesen Makel hatte", ihre eine Hand wies zu ihren Augen, während die andere immer noch auf Jarins verweilte, die sich sichtlich bei ihren Worten verkrampft hatte. „Das war auch nicht gerade ein Argument, das die Beziehung zu den anderen Rudelmitgliedern positiver stimmte."
„Das kann ich mir vorstellen, zumal das Maureen-Rudel eher als fanatisch angesehen wird, was die alten Sitten angeht. Mein Vater hatte sich mehr als einmal darüber aufgeregt", merkte Jarin an. „Und er hatte recht damit. Sie waren ziemlich...", Cass versuchte ein passendes Wort zu finden. „Sie waren in ihren Ansichten sehr strickt."
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Auch ohne Flügel kann man fliegen.
FantasyDie Gestaltwandlerin Cassandra Lakast bekommt einen Neuanfang. Eine neue Stadt. Eine neue Wohnung. Ein neues Leben. Doch reicht das alles, um ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen? Wie geht sie mit den neuen Eindrücken um? Und vor allem, wie we...