Kapitel 12: Schein und Sein

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Im Laufe ihres Heulkrampfes musste Cass irgendwann eingeschlafen sein. Ihr Bewusstsein kam langsam wieder hervor und auch ihre Ohren schienen nun endlich wieder den leisen Stimmen Worte zuordnen zu können.

„Wie geht es ihr?", war da Jarins besorgte leise Stimme aus der Küche von Trishs Wohnung zu hören.

„Sie schläft immer noch. Das hat sie ziemlich hart getroffen", erwiderte Trish ebenso leise, aber doch hörbar.

„Wir konnten keiner weiteren Spur folgen. Wer auch immer das war, hat dafür gesorgt", war auch Quinn zu vernehmen.

„Wenn ich diesen Kerl in die Finger bekomme...", knurrte Jarin. Aber es war Trish, die den Satz beendete: „Werde ich ihn Organ für Organ ausweiden." Kurz trat Stille ein. Auch Cass war etwas von der Brutalität der Aussage geschockt. Dann äußerte Quinn sich: „Ich mag es, wenn du blutrünstig wirst. Das ist verdammt sexy." Cass konnte sich bildlich vorstellen, wie Trish auf seine Bemerkung hin ihre unnahbare Miene aufsetzte und in gespielter Arroganz die Augenbraue hob. „Ich weiß, Quinn. Ich sehe ja immer, wie du anfängst zu sabbern." „Hey."

Irgendwie brachte das ein gerührtes Lächeln auf Cass Gesicht. Nicht die Tatsache, dass die drei den Übeltäter büßen lassen wollten, sondern die Sorge, die sie einer eigentlich Fremden entgegenbrachten. Dabei musste Cass feststellen, dass sie für jeden einzelnen der Drei es ihrerseits jederzeit mit einem wütenden Grizzly aufgenommen hätte. Auch wenn ihre Chancen dabei sehr schlecht stehen würden.
Sie waren für sie eine Familie geworden.

„Hey Kleine, du bist ja wach. Wie geht es dir?"Jarins leise Stimme direkt neben ihrem Ohr ließ Cass zusammenzucken und sich kurz darauf sofort wieder entspannen. Ohne ihm zu antworten setzte sie sich einfach auf und schlang ihm ohne jegliche Scheu die Arme um den Hals. Er protestierte nicht, sondern legte seinerseits die Arme um sie, hob sie hoch, nur um dann selbst auf der Couch Platz zu nehmen, Cass auf seinem Schoß und wie ein Klammeräffchen an ihn geschmiegt.

Erst nach einiger Zeit konnte diese die Vibrationen seines Brustkorbs zuordnen. Der Kerl schnurrte. Das brachte sie irgendwie zum Kichern. Seine Umarmung verlor an Kraft und er blickte ihr fragend in die Augen. Sie wies ihn darauf hin und auch, dass es sie irgendwie kitzelte. Als hätte Jarin es erst da gemerkt, hörte sein Schnurren plötzlich auf, woraufhin Cass einen traurigen Schmollmund aufsetzte.

„Nicht aufhören. Ich mag es irgendwie." Das Lächeln kehrte bei den Worten auf ihr Gesicht zurück und auch Jarin konnte sich das Aufblitzen seiner Zähne nicht verkneifen.

„Kleine, du hast meinen besten Freund zum Stubenkater mutieren lassen." Beide schauten perplex zu Quinn. Erst jetzt wieder realisierend, dass noch zwei weitere Leute im Raum waren. Seine Unterbrechung handelte ihm auch sogleich einen Schlag gegen den Hinterkopf ein. „Hey." Fragend, als wäre ihm der Grund für diese Bestrafung nicht klar, sah er entgeistert zu Trish. „Holzkopf", war ihre einsilbige Begründung.

„Ich mag ein Holzkopf sein. Aber ein Holzkopf, auf den du stehst", warf Quinn frech grinsend ein.

„Träum weiter, Katze", damit machte sich Trish auf in die Küche, um - wie sie meinte - noch was kleines zu Essen zu machen. Ihre Geste an Quinn, dass dieser ihr folgen sollte, war dabei nicht gerade unauffällig. Doch noch ehe Quinn der Aufforderung nachkam, zwinkerte er Jarin und Cass verschmitzt grinsend zu. „Oh, glaub mir, ich muss nicht mehr träumen." Dann folgte er seiner Angebeteten. Cass konnte auf seine Worte hin nur kichern, ließen diese doch nur wieder die erhitze Szene in der Gasse neben der Bar vor ihr erscheinen.

Jarin sah Cass fragend an, anscheinend keinen blassen Schimmer, was Quinn damit andeuten wollte. Sein verwirrter Gesichtsausdruck steigerte Cass Kichern in ein waschechtes Lachen.

„Okay, was war das gerade?", fragte er Cass nach einer Erklärung, doch diese schaute einfach nur gespielt unschuldig drein, nicht bereit, das kleine Geheimnis, das sie mit Quinn teilte, zu offenbaren. Das: „Ich weiß nicht, wovon du redest", war dann vielleicht doch ein bisschen zu dick aufgetragen.

„Nun, dann bleibt mir nur noch eine Möglichkeit, ich muss es aus dir herauskitzeln." Noch ehe Cass vehement protestieren konnte, fing er damit auch schon an, was sie unkontrolliert lachen und kreischen lies. Jarins dunkles Lachen begleitete dabei das ihrige. Das Ganze ging eine geraume Zeit lang, bis Cass Bauch schon schmerzte und sie das Gefühl hatte, endlich wieder einatmen zu müssen.

„Jarin, aufhören. Ich bekomme keine Luft mehr." Er gehorcht ihr sichtlich nur widerwillig. Langsam richtete Cass sich wieder in eine sitzende Position auf und merkte, dass ihr rechtes Auge richtiggehend brannte. Bestürzt wandte sie sich von Jarin ab und versucht die Kontaktlinse wieder zu richten.

„Hey, alles okay?" Angst durchströmte sie, dass er es sehen könnte. Doch dann schoss ihr ein einziger klarer Gedanke durch den Kopf. Warum? Wenn Cass es nicht wagte, ihm ihr Geheimnis zu erzählen, würde das immer zwischen ihnen stehen und sie hatte wirklich begonnen ihn zu mögen. Ja, konnte sich das Leben nicht mehr ohne ihn oder die anderen beiden vorstellen. Aber, was ist, wenn... Cass traute sich diesen Gedanken nicht zu Ende zu denken und den Mut, den ihr die Zeit nach ihrem Aufwachen gegeben hatte, zu nutzen.
Sie war bereit es zu riskieren.

„Bitte, erschrick nicht." Damit nahm Cass ihre Hornbrille ab und legte sie behutsam auf den Tisch. Die Welt war nur noch ein Gebilde aus Nebel und unscharfen Farbklecksen. Dann nahm sie allen Mut zusammen und entfernte die eine gefärbte Kontaktlinse von ihrem rechten Auge. Kurz überlegte Cass, ob sie die Brille erneut anziehen sollte, um keine von Jarins Regungen zu verpassen, doch dafür reichte ihr Mut dann nicht mehr.

Also gab Cass sich einen Ruck und drehte sich so, dass Jarin es sehen konnte. Das grüne Auge, dass unter der braunen Kontaktlinse die ganze Zeit versteckt gewesen war. Ihr Herz raste, als sei sie einen Marathon gelaufen. Doch Jarin blieb still. Eine ganze Zeit lang. Der Schemen vor ihr regte sich nicht. Sah sie einfach nur an. Aber er lief auch nicht weg oder beschimpfte sie als Missgeburt, wie es viele schon getan hatten. Das war doch immerhin positiv, oder?

Dann spürte Cass eine sanfte Berührung schwieliger Hände erst an der einen Wange und dann auch an ihrer anderen. Ihr Atem stockte, als ihr Gesicht davon eingerahmt wurde und der Schemen sich doch bewegte. Dann trafen sanfte Lippen auf die ihren und ein Seufzer, der Wonne verließ ihre Kehle. Ein wohliges Kribbeln durchströmte ihren Körper. Das gleiche Gefühl, dass sie in seiner Umarmung auf der Veranda und auch soeben auf der Couch empfunden hatte. Nur viel, viel stärker. Ihr Körper reagierte instinktiv, kam Jarins Lippen entgegen und erwiderte diese unbeschreibliche Berührung, die sie selbst noch nie so rein hatte erleben dürfen.

Erst als der Kuss endete merkte Cass, dass sie unbewusst die Augen geschlossen hatte. Aber sie hätte ja ohnehin nichts sehen können. Jarins Hände verließen ihr Gesicht und sie spürte ihren Verlust körperlich. Doch dieser war nur von kurzer Dauer, ehe ihre Brille den Platz auf ihrer Nase einnahm und so ihre Welt wieder scharf stellte. Kurz verweilten seine Hände auf ihrer Wange und sie sah auf in sein Gesicht nur um seinen, ihr Herz erwärmenden, sanften Blick auf sich ruhen zu spüren.

„Du bist wunderschön, meine Kleine. Sowohl innerlich als auch äußerlich. Lass dir von niemandem etwas anderes erzählen", hauchte Jarin, sein Blick den ihren gefangen nehmend und so voller Zuneigung. Sie spürte die Träne nicht, die langsam ihre Wange herunterkullerte. Jarin fing sie wie den größten Schatz auf und schloss sie in seiner Handfläche ein, ehe ihre Lippen sich in einem erneuten Kuss vereinten.

Auch ohne Flügel kann man fliegen.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt