Kapitel 10: Höhen und Tiefen

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So gerne sie Jarins Hemd auch behalten hätte, leider konnte sie es nicht. Deshalb fragte Cass Trish nochmals nach dem Weg zu seiner Waldhütte, immerhin war sie am Filmabend zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich alle möglichen dunklen Szenarien auszudenken, was mit ihnen passieren würde, sobald sie die Türschwelle überschritten. Im Nachhinein konnte Cass nur über ihre damalige Furcht schmunzeln.

Nach Feierabend machte sie sich somit auf den Weg. Die Sonne hatte den Horizont noch nicht erreicht und warf ihr wärmendes Licht auf die Fassaden der Häuser. Kinder spielten auf den Straßen, zum Teil in tierischer und zum Teil in menschlicher Gestalt. Ihr Lachen und die quietschenden Tiergeräusche schallten zu Cass hinüber und zauberten ihr ein glückliches Lächeln aufs Gesicht.

Hier war alles so friedlich und ruhig. Jeder achtete auf den anderen und es herrschte ein Gemeinschaftsgefühl, wie Cass es noch nie verspürt hatte. Gedankenverloren strich sie mit ihren Fingern über den leicht rauen Stoff von Jarins Hemd, das sie sich kurzerhand einfach nochmal angezogen hatte. Sollte doch jeder denken, was er wollte. Für diesen kleinen Augenblick war es ihr egal.

Allerdings war es wirklich nur ein Augenblick, den dieses Gefühl des Glücks währte, denn ihre Augen trafen auf die elegante, große Gestalt von Felicitas Beauchamp, die gerade einen Laden mit der Aufschrift „Clarisse' Boutique" verließ. Heute trug sie einen roten Pullover, in den vereinzelte, silbrige Wollfäden eingearbeitet waren. Ihre braune Lederhandtasche machte einem kleinen Rucksack Konkurrenz und natürlich waren ihre gigantischen Stöckelschuhe wieder mit von der Partie.

Kurz überwältigte Cass der Drang, in der nächsten Lücke zwischen den Häusern zu verschwinden, aber Felicitas' blaue Augen fanden sie noch bevor sie den Gedanken in die Tat umsetzen konnte. So blieb Cass nichts anderes übrig, als mit ihrem Lächeln ihr Unwohlsein zu verstecken und mit bemüht normalen Schritten den Weg an der Wandlerin vorbei anzupeilen. Sie konnte ja schlecht die Straßenseite wechseln oder sich einfach umdrehen.

Es schien schon fast so, als würde Felicitas sie einfach ignorieren. Cass war beinahe an ihr vorbei und ihre Lungen schrien nach Luft, die sie unbewusst angehalten hatte. Doch ihr geistiger Wunsch, einfach kurz die Fähigkeit der Unsichtbarkeit zu besitzen, erfüllte sich nicht.

„Ah, Trishs unfähige Angestellte", trafen Cass die gehässigen Worte in den Rücken und ihre Beine reagierten und blieben einfach stehen. Sich mit einem tiefen Atemzug wappnend stellte sie sich dem Unausweichlichen und drehte sich langsam zu der Hyäne um. Ihren Gesichtsausdruck versuchte Cass dabei mit allen Mitteln unter Kontrolle zu halten. Auch wenn ihr das beim Anblick des abfälligen Blickes, dem sie begegnete, nicht besonders leicht viel. Dabei war ihr dieser doch nur allzu vertraut.

Langsam glitt Felicitas musternder Blick über Cass' Aufmachung. Diese ließ es über sich ergehen, konnte sich aber nicht davon abhalten, langsam den Kopf einzuziehen.

Schließlich trafen ihre Blicke wieder aufeinander. Die Lippen der Hyäne waren nicht gerade sanft aufeinandergepresst und auch ihre Augenbrauen waren verstimmt zusammengezogen, auch wenn Cass sich nicht erklären konnte, warum die Frau plötzlich wütend auf sie war.

„Also nicht nur eine unfähige Angestellte sondern auch noch einen miserablen Modegeschmack und nicht mal mittelmäßiges Aussehen. Naja, nichts was ich nicht erwartet hätte. Deine Eltern müssen ja so stolz auf dich sein" Ihre Worte trafen die wunde Stelle in Cass' Innerem zielgenau und ließen sie zusammenzucken. Doch Felicitas nahm das gar nicht mehr war. Sie kehrte der Polarfüchsin brüsk den Rücken und stolzierte davon, während Cass die Scherben ihres mickrigen Selbstbewusstseins zusammenkratzen musste.

Ihr vorheriges Hoch kehrte selbst dann nicht zurück, als sie Jarin mit unbekleidetem Oberkörper am Boxsack auf seiner Veranda trainieren sah. Einzig die Röte schoss ihr in die Wangen und sie überlegte sogar, ob sie umkehren sollte. Dabei schien sein Anblick sie förmlich zu verzaubern. Auch er trug wie Trish und Quinn Tätowierungen. Sie konnte Ringe um seine Unterarme ausmachen und einen großen schwarzen Schriftzug auf seinem Rippenbogen.

Auch ohne Flügel kann man fliegen.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt