Wieder gingen die kleinen bunten Türglöckchen. Es war an diesem Tag schon das sechste Mal, nachdem diese Hyäne den Laden betreten hatte. Wie war ihr Name noch gleich gewesen? Felicitas? Jedenfalls hatte Cass den Eindruck, dass sie jedes Mal unwillkürlich bei dem hohen Klingeln zusammenzucken musste.
Die restlichen Kunden waren ja wieder freundlich ihr gegenüber gewesen. Natürlich auch über die Maße neugierig. Aber niemand ging über die, sie detailliert musternden, Blicke hinaus. Klar, verursachte ihre Brille mit den nicht gerade dünnen Gläsern hier und da einen überraschten Gesichtsausdruck oder eine hochgezogene Augenbraue. Damit konnte sie aber leben, stellte es für sie doch nichts Neues dar.
Trish hatte sich zwischendurch immer mal wieder an der Theke blicken lassen. Sie brachte dabei frisch gebackene Waren aus der Backstube und fragte jedes Mal, ob alles in Ordnung war, ohne dabei den Eindruck eines Kontrollfreaks zu erwecken. Der Fuchs-Gestaltwandlerin schien wirklich daran gelegen zu sein, dass Cass ihre Arbeit gefiel und, wenn das ohnehin schon nicht der Fall gewesen wäre, hätte wohl die heiße Schokolade mit Milchschaum und Zimt am Nachmittag jeden Miesepeter entwaffnet. Allerdings war dieses wohlige Gefühl, das Cass beim Betreten des Ladens verspürt und das sich seit Felicitas Besuch verflüchtigt hatte, nicht mehr ganz wiedergekehrt war.
Vielmehr erlebte es ein heftiges K.O., als auf das Läuten der Glöckchen zwei Männer den Laden betraten. Unverkennbar schlugen der Wandlerin zwei stark ausgeprägte maskuline Tiergerüche entgegen, die zusammen mit ihren Auren ihr eigenes Wesen mit einer Steinlawine aus Unruhe überrollten. Sie erstarrte auf dem Fleckchen Erde, das ihre Schuhsohlen berührte.
Der kleinere der beiden Männer, der sie trotzdem deutlich überragte, hatte blonde mittellange Haare mit fast weißen Strähnen darin, die bestimmt wie die von Cass gerade so in einen Pferdeschwanz gepasst hätten. Ein Ohrring blitzte an seinem rechten Ohr auf, als er sich in einer lässigen Bewegung einige Haarsträhnen dahinter strich. Er trug ein weißes T-Shirt und eine verwaschene, löchrige Jeans.
Sein Kumpel überragte ihn nur um wenige Zentimeter und doch schien seine eher schlanke Gestalt diesen Größenunterschied noch hervorzuheben. Seine Haare waren schwarz, an den Seiten kurz und oben etwas länger. Der Drei-Tage-Bart gab ihm mit der schwarzen Jeans, dem dunklen T-Shirt und dem dunkelgrün-schwarz karierten Hemd, das er als eine Art Jacke mit hochgekrempelten Armen trug, etwas Verwegenes. Doch das, was ihr wirklich eine Gänsehaut bescherte, waren seine gelben Augen, die ihren Blick gefangen nahmen.
„Hallo, du musst wohl die Neue sein, von der alle reden." Ein heiteres Lächeln erschien auf dem Gesicht des blonden Luchs-Gestaltwandlers. „Mein Name ist Quinn Morgan und das hier ist Jarin Hall." Dabei zeigte er auf seinen schwarzhaarigen Kumpel, dessen Geruch förmlich schrie, dass es sich bei seiner Tiergestalt um einen Panther handelte. Dieser nickte Cass freundlich zu und überließ es anscheinend Quinn, das Gespräch zu führen.
Aber die beiden Männer konnten noch so freundlich zu ihr sein... Noch einmal würde Cass sich nicht von einem Fremden hinters Licht führen lassen.
Den restliche Teil ihres Körpers immer noch zu Stein erstarrt, brachte sie ebenfalls nur ein Nicken zu Stande. Ihre Mund war einfach nicht fähig Worte zu formulieren.
Quinn schien sichtlich auf die Vorstellung ihrerseits zu warten, aber letzten Endes sah er ein, dass er nichts dergleichen aus ihr herausbekommen würde und räusperte sich, etwas aus dem Konzept gebracht „Ist Trish da?" Seine Frage hatte noch nicht vollständig seinen Mund verlassen, da verschwand Cass auch schon blitzschnell in der Küche.
Ob es wie eine Flucht aussah? Bestimmt. Ob sie sich dafür schämte? Kein bisschen. Im Gegenteil. Die junge Frau war sogar ein Stück weit stolz darauf, es so lange in der Gegenwart dieser zwei testosterongefüllten Männchen ausgehalten zu haben, ohne sich zu verwandeln und die ultimative Geste der hündischen Unterwerfung zu praktizieren. Nein, mit ihrem, mehr oder weniger stilvollen, Abgang hatte sie sich immerhin einen kläglichen Rest ihrer Würde bewahrt. So viel wie von dem Zusammentreffen mit der Hyäne eben noch übrig war.
„Trish, da fragen zwei Männer nach dir. Soll ich Gran rufen?" Diese sah Cass daraufhin verdutzt an. Vorsichtig trat die Rotfüchsin an der jungen Frau vorbei und lugte in den Vorraum des Ladens. Ihr plötzliches, helles Auflachen, ließ Cass sie einfach nur verständnislos anstarren, als ob Trish langsam dem Wahnsinn verfiel. Das lies Trish dann auch kurz darauf verstummen.
Immer noch lächelnd strich Trish sich eine Träne aus dem Augenwinkel, nahm Cass behutsam an der Hand und zog sie zurück in den Verkaufsraum. Erst sträubte Cassandra sich gegen den sanften Zug, gab dann aber nach, fühlte sie sich doch in Trishs Gegenwart relativ sicher.
Die freie Hand in die Hüfte gestemmt meinte Trish an Quinn und Jarin gerichtet: „Was habt ihr beiden ihr den bitte gesagt?" Verständnislos blickten ihr ein gelbes und ein eisblaues Augenpaar entgegen.
„Ich habe doch nur...", begann der blonde Quinn, doch Trish ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. „Was auch immer es war, sie hätte euch fast Gran auf den Hals gehetzt."
Der andere Mann, Jarin, brach daraufhin in einen ebensolchen Lachanfall aus wie Trish zuvor. Quinn dagegen riss geschockt die Augen auf und schien leicht blass um die Nase zu werden. Cass Wangen erhitzten sich vor Scham. Scheinbar hatte sie irgendeinen gravierenden Fehler begangen. Jarin klärte sie auch sogleich darüber auf, nachdem seine Heiterkeit sich etwas gelegt hatte. „Glaub mir, Kleine. Gran würde ich nicht mal meinem schlimmsten Feind auf den Hals hetzen."
„Ja Mann, die alte Schachtel schießt verdammt gut mit ihrer Schrotflinte", schaltete sich da Quinn wieder ein und rieb sich dabei leicht in Gedanken versunken die Schulter.
„Sprich nicht so von meiner Gran. Sonst stecke ich dir mal aus Versehen ihre Cupcakes zu", drohte Trish ihm ernst, mit einem mahnend erhobenen Finger. Ihre andere Hand umschloss immer noch die von Cass. Diese wusste nicht genau, was es mit der Drohung auf sich hatte, aber sie schien ihr Ziel nicht zu verfehlen. Quinns Gesicht schien einen reumütigen Ausdruck aufgesetzt zu haben und ihre gespitzten Ohren schienen auch eine gemurmelte Entschuldigung zu vernehmen. Damit gab sich Trish augenscheinlich zufrieden.
„Tja, Quinn", Jarin klopfte seinem Kumpel auf die Schulter. „Trish hat dich ohne Zweifel in der Hand." Dann richtete sich sein eindringlicher Blick auf Cass und sie musste sich zwingen, nicht einen Schritt zurückzuweichen. „Aber wer ist nun dieses neue Gesicht hier." Er ließ es den Frauen offen, wer von ihnen antwortete und so nahm Cass, unterstützt von einem sanften Händedruck von Trish, allen Mut zusammen.
„Cassandra Lakast", presste sie hervor und verstummte sofort wieder. Für mehr reichte es dann aber nicht mehr. Diese zwei Worte hatten ihren Atem geraubt und wenn sie es nicht gewesen wären, hätte es der musternde Blick getan, den sie sowohl von Quinn als auch von Jarin ertragen musste.
Ein „freut mich dich kennenzulernen, Cassandra" entließ sie dann endlich aus der allgemeinen Aufmerksamkeit.
„Heute Filmabend mit Pizza bei mir?", fragte Jarin an Trish gewandt. Doch ehe diese Antworten konnte, erweiterte er seinen Vorschlag noch. „Du bist natürlich auch gerne eingeladen, Cass. Ich darf dich doch Cass nennen, oder?" Es war ein Gefühl, wie panisch umherfliegende Vögel, das sich in ihr breitmachte. Deshalb musste sie nicht lange über dieses Angebot nachdenken. Ihre Lippen öffneten sich, um mit einem strickten „Nein, danke" abzulehnen.
Schmerzhaft zerdrückte Trish ihr die Hand und antwortete an ihrer statt. „Natürlich sind wir beide dabei. Nicht wahr, Cass?" Trishs Händedruck nahm nicht an Intensität ab und auch ihre scheinheilige Frage drängte Cass in eine Richtung, in die sie doch eigentlich gar nicht wollte. Tatsächlich machte sie sich, aber zunehmen Sorgen um die Funktionsfähigkeit ihrer Hand, weshalb sie wohl oder übel nach Trishs Pfeife tanzen musste. „Klar, gerne." Allein für diese einfache Antwort mit ihrem aufgesetzten, freudigen Gesichtsausdruck hätte sie einen Preis verdient.
„Also dann bis heute Abend, Ladies." Beide Männer hoben ihre Hände zum Abschied und verschwanden dann mit dem Klingen der Türglöckchen.
Einem Geräusch, das Cass von Mal zu Mal weniger zu mögen schien.
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Auch ohne Flügel kann man fliegen.
FantastikDie Gestaltwandlerin Cassandra Lakast bekommt einen Neuanfang. Eine neue Stadt. Eine neue Wohnung. Ein neues Leben. Doch reicht das alles, um ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen? Wie geht sie mit den neuen Eindrücken um? Und vor allem, wie we...