Das Mädchenvom See (Teil 2)

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„Ich hoffe, wir sehen uns bald mal wieder." Hatte sie mir winkend zugerufen, als ich unseren Ort der Stille verlies. Und ja, das hoffte ich auch. Violett. Vertraute, Fremde Violett.

Die Schulklingel riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte schon den ganzen Tag versucht ihr Gesicht zu zeichnen, doch ich war nie wirklich zufrieden.Irgendetwas störte mich immer und ich wusste nicht was. Ich konnte sie einfach nicht richtig einfangen. Ich saß in der hintersten Reihe und kritzelte in meinem Heft herum, als die Tür aufging und Christopher herein kam. Er war selten pünktlich in der Schule, wobei das noch eine Untertreibung war, denn zur 3. Stunde zu erscheinen ist wohl eher schwänzen als verschlafen. Er setzte sich an seinen Platz in einer der vorderen Reihen. Ich wusste, was gleich passieren würde. Es war Standard, es war ein Ritual. Jed, welcher in der mittleren Reihe ganz hinten gegen die Wand kippelte, riss ein Stück Papier aus seinem Block und knüllte es zusammen. Seine Freunde, eine Bank neben ihm, trommelten mit den Fingern lautstark auf der Tischplatte. Jed holte aus, und warf das Papierkneul in Richtung von Christophers Platz. Es traf ihn direkt am Kopf. Jeds Freunde klatschten anerkennend in die Hände. Sie waren Arschlöcher. „Hey Ghost!" brüllte er nun durch die ganze Klasse. „Ich hab vergessen meine Hausaufgaben zu machen, wie wäre es denn wenn du mir netterweise deine gibst?" Sie nannten ihn Ghost weil er nie sprach, keinen Ton von sich gab. Er wandelte unbemerkt umher, die Kapuze in den Gängen tief ins Gesicht gezogen. Er war ein Einzelgänger und sprach im Unterricht nur, wenn der Lehrer ihn direkt darum bat. Er ist jetzt schon fast ein ganzes Jahr an unserer Schule und trotzdem weiß ich so gut wie gar nichts über ihn. Ich hatte nie darüber nachgedacht, aber jetzt, da ich es tat, kam ich mir irgendwie ignorant vor. Ohne eine Antwort von Christopher abzuwarten, schnappte sich einer von Jeds Schoßhündchen sein Heft und warf es nach hinten auf dessen Tisch. „Ich danke dir vielmals, das ist zu Gütig." Arschlöcher, wie gesagt. Aber vielleicht bin ich auch zu hart zu ihnen, wer weiß was dahinter steckte. Eine zerrüttete Familie, unerwiederte Liebe oder der ständige Druck gut genug für irgendetwas oder irgendwen zu sein. Vermutlich ist es aber auch ganz einfach. Sie mochten es andere zu quälen. Mir war es gleich. Ich gab mich nicht mit ihnen ab. Der Lehrer betrat das Klassenzimmer und die Stunde verlief ohne das etwas außergewöhnliches geschah. Ich dachte der Tag würde auch genauso Enden. Ohne Vorkommnisse, ohne Abweichungen von allen anderen Tagen auch. Doch gerade, als ich meine Tasche packte,um zu gehen, viel mein Block aus meinen Unterlagen und meine Zeichnungen verstreuten sich über dem Boden.  Ich fluchte leise und sammelte sie zusammen, als plötzlich eine anderen Hand an meiner vorbei Griff und ein Porträt-Versuch von Violett aufhob. Als ich aufblickte, stand dort Christopher und beäugte es nahezu hypnotisch. Und in diesem Moment traf mich die erste Erkenntnis. Sie sahen sich unglaublich ähnlich. Warum ist mir das nicht sofort aufgefallen. Und die zweite Erkenntnis, wohl, weil ich Christopher genauso wenig Beachtung schenkte, wie Jed und seinen Freunden, dass ich es hätte viel eher sehen müssen. Sie waren gleich. Ich  fühlte mich schlecht. Doch mir blieb nicht viel Zeit weiter darüber nachzudenken, denn Christopher legte in diesem Moment die Zeichnung zurück auf meinen Platz und verlies ohne ein weiteres Wort den Raum. Nun war ich allein. Und alles, woran ich denken konnte war Violett. Und dass ich sie unbedingt nach Christopher fragen wollte. Und in der gleichen Sekunde fragte ich mich, ob er wohl genauso ist wie sie.

Ich steckte gerade meine Kopfhörer an mein Handy, als sich der Bus langsam in Bewegung setzte. Seichte Bässe drangen in mein Ohr und ließen die Welt um mich herum verstummen. Die Münder der Menschen im Bus bewegten sich zwar, doch für mich, kamen keine Worte daraus hervor. Manchmal suchte ich draußen nach Leuten, welche sich perfekt zum Takt meiner Musik bewegten und dann stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn die Welt Hintergrundmusik hätte. Die leisen Melodien eines Pianos an einem regnerischen Tag. Rhythmische Schlagzeugschläge und mitreißende Akkorde einer E-Gitarre in den nächtlich Straßen der Großstädte. Oder eine gefühlvolle Akustikgitarre, deren Schwingende Töne einen in den Sonnenuntergang tragen. Und in dem Moment, als ich den Bus verlies und meine Kopfhörer absteckte, erlosch die Welt aus Tönen, Schlägen und Hallen. Und alles war still. Bis auf das Rauschen der Autos, welches in meinem Rücken immer leiser wurde und irgendwann ganz verstummte. Als ich die Tür unserer kleinen Wohnung aufdrückte, erwartete ich nicht, dass meine Mutter da war. Das war sie nie. Einzig und allein unser Kater, Mr Darcey, kam mir mit erhobenem Kopf entgegen gelaufen. Ich kniete mich zu ihm hinunter und kraulte ihn am Hals. „Schön dich zu sehen, Kleiner." Wenn ich zu Hause war, folgte er mir auf Schritt und Tritt. Das ist meisten ganz schön denn, so war ich nie allein. Nur gibt es auch Orte, an denen man nunmal tatsächlich lieber alleine wäre. Keine Chance mit Mr Darcey. Ich fütterte ihn und öffnete ihm die Balkontür, damit er ein wenig frische Luft schnappen konnte. Auf dem Küchentisch lag ein Handgeschriebener Zettel.
Ich hab dir Abendessen in den Kühlschrank gestellt. Ich hoffe ich schaffe es noch rechtzeitig, aber für den Fall der Fälle... Hab dich lieb -Mom
Selbstverständlich würde sie es nicht rechtzeitig schaffen. Ich zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Müll.
Normalerweise würde ich nun auf die Suche nach meinen geheimen Orten gehen, doch das musste ich nicht. ich hatte bereits einen perfekten Ort gefunden. Und alles was ich wollte war, die Fehler in meinen Zeichnungen von ihr zu finden und zu beseitigen. Und so ging ich los, hoffend, dass alles genauso sein würde wie letztes Mal, hoffend, dass Violett mir  Modell stehen würde.

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