Violettes Kleid, offenes wallendes Haar, ein Lächeln ohne Spiel. Sie war es. Und sie war wieder hier. Fast so, als wäre ich nie weg gewesen. „Arthur!", rief sie mir von weitem zu und winkte, als ich den Kiesweg entlang zum Pavillon lief. Alles war gleich, bis auf das heute keine einzige Wolke am Himmel zu sehen war. Das strahlende Blau wurde nur durch einige Flugzeuge gestört, welche es mit ihrem weißen Dunst zu durchschneiden schienen. Sie lief die kleine Anhöhe vom See hinauf zu mir und als sie vor mir zum stehen kam, wusste ich einen Augenblick lang nicht, was ich sagen sollte. Sie legte ihren Kopf schief und runzelte die Stirn. „Ist alles in Ordnung?" Ich nickte hastig „Ja, ja ich bin nur froh dich zu sehen." Sie strahlte mich an, nahm meine Hand und machte kehrt um, mich mit sich ziehend, in Richtung des Pavillons zu gehen. „Ich bin auch froh dich zu sehen, ich habe gehofft du würdest heute wieder her kommen." Man sah es mir vielleicht nicht an, jedoch freute ich mich sehr darüber, dass sie wohl ähnlich empfand wie ich. „Wollen wir nicht heute mal runter zum Steg?" fragte ich, als wir den Pavillon erreicht hatten und ihn betraten. Sie schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ich finde hier drin ist es, als wäre alles hier ein Geheimnis. Unten am See verfliegt diese Illusion." Ich wusste was sie meinte. Am Ufer lag der See offen und weit vor einem, während man von hier oben nur einen kleinen Ausschnitt zu sehen bekam. Wie ein Gemälde, welches dem Betrachter nur einen Bruchteil dessen zeigte, was sich tatsächlich darin verbarg, außerhalb des Rahmens. „Hast du deine Zeichensachen mit?" fragte sie mit strahlenden Augen. Ich antwortete nicht, sondern zog meinen Block sowie einen Bleistift aus meiner Tasche. „Zeichne mich." verdutzt sah ich auf. Sie strich sich die Haare nach hinten, sodass keine einzige Strähne mehr nach vorne über ihren Schultern lag. „Du hast dein Bild das letzte Mal so schnell wieder weg gepackt. Ich möchte, dass du eines nur für mich machst. Zeig mir, wie du mich siehst Arthur." Es lag ein Ton in ihrer Stimme, den ich nicht zu deuten wusste, doch da ich nichts lieber wollte, als sie zu zeichnen, nickte ich nur und begann ihr zartes Gesicht zu skizzieren. Ihre vollen Lippen, die leicht geschwungenen Wangenknochen und ihre großen unergründlichen Augen, welche von einem Kranz voller schwarzer Wimpern eingerahmt wurden. Sie sah so rein aus, als würde sie von einem dauerhaften Schein umhüllt. „Hör mal..." begann ich, „...heißt dein Bruder Christopher?" Sie runzelte die Stirn. „Ja, kennst du ihn?" „Christopher Collins oder? Er...ist in meiner Klasse." Etwas veränderte sich in ihrem Blick, doch es ging so schnell, wie es gekommen war. Sie sah ernst aus und blickte auf ihre Füße hinab. „Weißt du...mein Bruder ist ein furchtbar lieber Mensch. Doch er hatte schon immer... Schwierigkeiten Anschluss zu finden, Freunde zu finden. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er jemals einen Freund zum Spielen mit nach Hause gebracht hatte, geschweige denn eingeladen wurde. Er war immer so unglaublich schüchtern. Und er erzählte mir auch wenig über die Schule und was ihm dort widerfuhr. Nur in der Kunst, konnte er all seine Gefühle zeigen. Doch..." Nun sah sie auf und sie strahlte übers ganze Gesicht. „...jetzt da ich weiß, dass er dich als Freund hat, bin ich beruhigt. Das freut mich wirklich unwahrscheinlich." Und ich konnte es nicht. Ich konnte ihr einfach nicht sagen, dass wir eigentlich nicht befreundet waren. Ich hatte ihm nie eine Chance gegeben. Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, wechselte sie das Thema. „Was denkst du. Wenn wir sterben, werden wir dann wiedergeboren? Reinkarnation?" Ich sah angesichts dieser Frage auf und unterbrach dabei das Zeichnen ihrer Haare. „Ich weiß nicht ehrlich gesagt. Ich denke, ich glaube an gar nichts." „Das ist Quatsch, jeder glaubt an etwas." Sie lächelte mich unbedarft an. „Ich für meinen Teil hoffe, dass ich eines Tages wiederkehren werde. Vielleicht ja als Schmetterling oder als Katze. Wenn ich aber wieder ein Mensch sein sollte, dann hoffe ich, dass ich all denen wieder begegne, die mir in meinem vorherigen Leben etwas bedeutet haben." Sie sprach von solch traurigen Dingen, doch bei ihr klang es, als würde sie über das Paradies sprechen. Und vielleicht tat sie es ja auch. In jedem Fall ist es eine schöne Vorstellung. Eine Weile saßen wir einfach nur da. Ich, sie zeichnend. Sie, mich dabei beobachtend. Normalerweise störte es mich, wenn mir andere dabei zusahen, doch bei ihr war es irgendwie etwas anderes. Sie sah mich nicht abwartend oder abschätzend an. Nicht kritisch oder bewertend. Sie beobachtete einfach mich und nicht das, was ich tat. „Erzähl mir etwas über dich." Bat ich sie und beobachtete wie ihr Gesicht einen überlegenden Ausdruck annahm. „Wir machen das so, für jede Info über mich, bekomme ich eine über dich. Ja?" Ich schmunzelte. Sie machte aus allem etwas besonderes. „Na schön." antwortete ich „Aber du fängst an." Violett setzte sich aufrecht hin und grübelte einen Moment nach. „Das Haus meiner Familie steht nicht weit weg von hier. Früher kam mein Bruder oft mit mir hier her. Mittlerweile tut er das jedoch gar nicht mehr." „Warum nicht?" fragte ich ohne vom Blatt aufzusehen. „So funktioniert das nicht Arthur. Info gegen Info. Und nicht Info, Diskussion, Info." Irgendwie wusste ich, dass sie mir keine Fragen beantworten würde und doch war ich etwas enttäuscht darüber. Aber ich sagte nichts. „Okay, also ich wohne mit meiner Mutter in einer kleinen Wohnung auf der rechten Seite des Flusses, am Rande der Stadt. Ich kenne meinen Vater nicht und will es auch gar nicht. Meine Mom arbeitet viel. Das letzte mal, als wir darüber sprachen, hatte sie zwei Jobs auf einmal. Sie ist selten zu Hause und ich bin zumeist allein mit unserem Kater. Ich könnte genauso gut keine Mutter haben, es würde keinen großen Unterschied machen." Ich blickte auf und sah in das unergründliche Gesicht von Violett. Ich spürte, wie sie etwas dazu sagen wollte, hielt sich aber zurück und fuhr stattdessen mit unserem kleinen Spiel fort. „Unser Vater, hatte immer andere Vorstellungen von unserer Zukunft als wir. Er tat es immer ab, wenn mein Bruder ihm erzählte, wie gerne er Architektur studieren würde. Naja er wollte, dass er in seine Fußstapfen tritt und seine Firma übernimmt. Du kannst dir sicher vorstellen wie oft wir uns stritten. Besser gesagt, ich und er. Mein Bruder nahm das irgendwie immer alles hin." Sie lächelte zwar doch ich vernahm, wie Traurigkeit hinter ihren Augen lag. Ich überlegte, was ich ihr über mich erzählen könnte, und entschied mich für etwas, was mir sehr nahe ging, da sie zu mir ebenfalls sehr offen und ehrlich war. „Meine Großmutter ist seit einer Weile im Krankenhaus. Ich schaffe es nicht sie zu besuchen, weil ich Angst davor habe es könnte das letzte Mal sein, das ich sie sehe und ich sie lieber so in Erinnerung behalten möchte, wie sie war. Verstehst du?" Violett nickte und sah auf ihre, im Schoß verschränkten, Hände hinab. „Ich weiß, dass es mir nicht zusteht etwas dazu zu sagen, aber ich würde sie besuchen." Sie erwartete keine Antwort sondern fuhr einfach fort. „Ums kurz zu machen, die Situation bei uns zu Hause ist nicht gerade die Beste. Mein Vater stürzt sich in seine Arbeit und meine Mutter tut so, als würden alle Probleme verschwinden, wenn man nur einfach nicht darüber sprach. Und mein Bruder, nunja er verschließt sich immer mehr, selbst vor mir. Ich habe manchmal das Gefühl er würde sich wünschen eine andere Familie zu haben." „Und was ist mit dir? Was wünschst du dir?" Mit dieser Frage hatte sie wohl nicht gerechnet, denn sie sah mich einen Augenblick überrascht an. Ich nahm schon beinahe an, sie würde meine Frage einfach übergehen, doch sie stand auf, kam herüber und beugte sich zu mir hinunter. „Ich wünsche mir, dass wir noch mehr Zeit miteinander verbringen."
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RandomIch sitze an meinem Arbeitsplatz. Die Nähmaschine rattert als ich die langen Bahnen von Stoff über sie hinweg ziehe. Stich für Stich. Naht für Naht. Lage für Lage. Und am Ende... am Ende jedes Kleidungsstückes ist etwas in meinem Kopf entstanden. Ei...