Folge 1 ~1.1 Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod

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~1.1~

POV Vikar Damast

„Ist es eine Fata Morgana? Ist es ein Staubteufel? Nein, es ist der Sandmann." Ein Chorus schadenfreudiger Heiterkeit erfüllt den Raum und lässt meine Fingerspitzen unangenehm Kitzeln. Der Versuch, die Augenbraue nach oben zuziehen, misslingt, denn die Erde in meinem Gesicht ist so steif getrocknet, dass ich für einen Moment, das Gefühl habe, mir die Haut von den Knochen zu schälen. Doch auch ohne eine Reaktion meinerseits fahren sie nonchalant fort.

„Oder eine schmächtige Version vom Ding...", schlägt ein anderer vor, derweil ich vergeblich versuche, meinen Dienstausweis aus der Innentasche der Jacke zu holen. Mir erschließt sich der Zusammenhang nicht und es ist im Grunde nichtig.

„...aus dem Sumpf." Mehrstimmiges Gelächter setzt ein und der hitzige Schlagabtausch steigert sich zum Absurden. Der getrocknete Schlamm an meinen Händen sorgt dafür, dass ich die folierte Oberfläche des Ausweises nicht zu fassen bekomme. Ich seufze geräuschlos und starte einen weiteren Versuch, doch die Kollegin an der Anmeldung winkt nur ab. Sie erkennt mich trotz der Schichten Dreck in meinem Gesicht und kann sich das Schmunzeln nicht verkneifen, welches ihre schmalen Lippen zu einem schiefen Strich formt. Ich bedanke mich mit einem schlichten Handheben und betrete das Revier endgültig.

„Hey, Damast, du nimmst den Spruch 'Im Dreck wühlen' etwas zu ernst, oder?" Ich bleibe zu meinem Leidwesen instinktiv stehen, blicke zu dem Kollegen, der mit einer Handvoll Akten neben mir auftaucht und diese symbolträchtig vor meiner beschmutzten Nase herumschwenkt. Colton Barres. Seines Zeichens Angeber und Großmaul. Aber auch Detective der Mordkommission, genauso wie ich. Er mustert mich belustigt und offenkundig abschätzig. Für ihn bin ich eine Witzfigur und mein momentanes Äußeres trägt wenig dazu bei, seine Meinung zu negieren. Es ist mir sowas von egal. Ich widerstehe dem Drang, dem werten Kollegen gestisch zu verdeutlichen, was ich von ihm und den Kommentaren der anderen halte. Dennoch zuckt meine Hand verräterisch nach oben. Um das rechtzeitig zu kaschieren, streiche ich mir über die verkrusteten Lippen. Der Quarz zwischen meinen Zähnen knirscht und ich schmecke die lehmige Erde, die sich fast kühlend auf die Zunge legt. Die kalkhaltige Note verursacht mir Gänsehaut und das kehlige Lachen des anderen Mannes verhallt schallend, während ich vorbei an ihm und den Kollegen zu den Umkleideräumen gehe. Ich hinterlasse eine feinsandige Spur im Gang und atme erleichtert aus, als die Stimmen endlich zu Hintergrundrauschen werden.

In der Umkleide angekommen, lasse ich einige Schrankreihen hinter mir, sehe aus dem Augenwinkel heraus ein paar Kollegen, die sich schweigend ihre Schuhe binden oder die Krawatte enger ziehen. Vor meinem Spind bleibe ich stehen, höre, wie sich die Eingangstür öffnet und schließt. Niemand ruft eine Verabschiedung. Eine Weile nestle ich an dem Schloss des Schranks herum. Doch ich bekomme es nicht auf. Die rutschigen Schmutzspuren, die meine eingesauten Hände hinterlassen, machen das Öffnen unmöglich. Nach dem fünften Versuch gebe ich auf, bette die Stirn gegen das kühle Metall und denke unbeabsichtigter Weise wieder an die Sprüche der Kollegen. Polizisten können ungemein kreativ werden. Das macht sie aber in keiner Weise witzig.

Ich streife mir die verschmutzte Jacke von den Schultern, werfe sie auf die Holzbank zu meinen Füßen und setze mich schwerfällig hin. Meine Gelenke knacken verräterisch. Die durchgehende Kälte der letzten Stunden macht ihr Übriges. Während ich meine linke Hand ein paar Mal im Uhrzeigersinn drehe, wird das Ausmaß noch deutlicher. Es schmerzt. Die Gegenrichtung erspare ich mir. Bis zu diesem Moment habe ich die Verletzung kaum wahrgenommen. Jetzt scheint sie sich pochend und unaufhörlich über meinen gesamten Arm auszubreiten. Meine Schultern fühlen sich an, als hätte jemand Beton auf ihnen vergossen und das nicht nur, weil ich die letzten zwei Nächte halbvertikal im Büro verbracht habe. Ich bin müde und ausgelaugt, aber vor allem frustriert. Nichts ist so gelaufen, wie ich es mir in den letzten Tagen vorgestellt habe.

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