„Mumbai, Dad?", frage ich entsetzt, während mein Vater die heiße Auflaufform mit zwei riesigen Topfhandschuhen aus dem Backofen holt.
„Kannst du auf dem Tisch schon mal Platz schaffen, Vince?", ruft er und hastet mit der Form zum Tisch. Ich renne vor ins Esszimmer, schiebe die Teller etwas weiter zum Rand und lege einen Untersetzer für die heiße Form bereit.„Ja", seufzt mein Vater, als er die noch brutzelnde Form abstellt. „Mumbai."
„Aber ... aber ich spreche kein Indisch", beschwere ich mich und mein Dad lacht.
Wir setzen uns an den Tisch und er verteilt etwas von dem heißen Gemüsegratin, das wir zuvor gemeinsam vorbereitet haben, auf beiden Tellern.„Das ist mir klar, Vince", sagt er ruhig und fügt ein „Guten Appetit" hinzu.
„Guten Appetit", antworte ich und sehe ihn noch immer fragend an. „Wie soll ich mein letztes High School-Jahr an einer indischen Schule schaffen, Dad?"
„Gar nicht, Vince", erwidert er wieder in dem gleichen ruhigen Ton und greift neben sich zu dem Sideboard neben dem Esstisch.Er legt eine Broschüre neben meinen Teller und erklärt: „Während ich in Indien bin, wirst du auf die Boston College Preparatory Academy gehen."
Ich sehe auf die Broschüre und starre ihn ungläubig an. „Du schickst mich auf ein Internat? Dad, ich bin achtzehn!"
„Es ist ein Internat zur Vorbereitung aufs College, Vince. Dein Onkel Greg und ich waren schon dort und du wirst ebenso wie wir davon profitieren."„Dad", lache ich. „Onkel Greg ist Tankstellenwart."
„Besitzer", korrigiert mein Vater mich. „Tankstellenbesitzer. Er legt großen Wert darauf."
„Tankstellenbesitzer in der Wüste in Arizona."
„Er hat es weit gebracht."
„Weit weg, ja."
Wir lachen beide und ich schüttle den Kopf. „Warum kann ich nicht auf meiner Schule bleiben?", fange ich wieder an. „Es ist doch nur noch ein Jahr."„Vince", seufzt er und legt liebevoll seine Hand auf meine Schulter. „Ich war auch mal achtzehn. Und ich hatte auch mal sturmfreie Wochenenden und jede Menge Mädels und Partys und Alkohol zu Hause. Aber ein Jahr? Nein, mein Lieber."
Ich senke meinen Blick und stochere in meinem Gratin herum.„Es ist nur ein Jahr, Vince. Danach gehst du aufs College und kannst richtig die Sau rauslassen", versucht er, mich aufzumuntern.
Ich schnaube abfällig und stochere in meinem Essen. „Als würde ich hier jedes Wochenende Partys schmeißen", murre ich.
„Vince", sagt mein Dad ruhig. „Ich verstehe, dass du gerade nicht begeistert davon bist, aber diese Lösung ist die Beste für uns. Und sieh es mal so: Ich habe auf dieser Schule deinen Onkel Greg kennengelernt und später seine Schwester geheiratet."
Er zwinkert mir zu und isst dann weiter.Ich sage nichts weiter, denn die Diskussion, die auf dieses Thema folgen würde, haben wir schon unzählige Male geführt und ich möchte den Abend nicht ruinieren. Stattdessen starre ich mürrisch auf die Broschüre, die mich neben meinem Teller zu verhöhnen scheint. Ein reines Jungeninternat. Hervorragend.
Mein Dad ist Key Account Manager bei einer großen Firma, die Hygieneartikel herstellt. Da seine Firma expandiert und nun auch den asiatischen Markt weiter für sich erschließen will, wird er das kommende Jahr in Mumbai sein, um von dort aus die Kundenbetreuung sicherzustellen.
Früher fand ich seinen Job unfassbar spannend, er war ständig in anderen Ländern unterwegs, brachte meiner Schwester Lauren und mir exotische Souvenirs mit und berichtete von den Dingen, die er gesehen und erlebt hatte.
Leider fand meine Mom, dass er sich zu wenig um die Familie kümmerte und wenn er zu Hause war, stritten sie viel. Schließlich reichte Mom die Scheidung ein und offenbarte dabei, dass sie seit sechs Monaten einen neuen Freund hätte.
Meinem Dad brach das Herz, ich konnte es sehen, wie der Schmerz buchstäblich seinen Körper durchzog. Er flehte meine Mom an, ihm eine zweite Chance zu geben, er würde seinen Job kündigen und mehr für uns da sein, doch es half alles nichts. Sie blieb hart und letztendlich wurden Lauren und ich vor die Wahl gestellt, bei wem wir bleiben wollten.
Lauren hat abends geweint und gesagt, sie wolle nicht von mir getrennt werden, aber ich hatte schon immer einen besseren Draht zu unserem Dad und wollte ihn auf keinen Fall allein lassen. So entschieden wir, dass ich bei Norman bleiben und Lauren zu Dana und ihrem neuen Freund Jim ziehen würde.
Das Ganze ist nun über vier Jahre her und wir alle haben uns mit der Situation arrangiert. Fast alle, denn mein Dad ist noch immer unsterblich verliebt in meine Mom und gibt die Hoffnung nicht auf, dass sie eines Tages zurück nach Hause kommt. Er schläft noch immer auf seiner Seite des Doppelbettes im Schlafzimmer, ihre Seite unberührt, und im Badezimmer steht ein zweiter Zahnputzbecher, ohne ihre Zahnbürste.
Glücklicherweise sehen Lauren und ich uns täglich in der Schule, auch wenn wir in den letzten Jahren unterschiedliche Freundeskreise aufgebaut haben. Vielmehr ist es so, dass Lauren als Hobby-Make-Up-Tutorial-Videobloggerin das so ziemlich beliebteste Mädchen der Schule ist und ich mache mir nicht so viel aus Beliebtheit oder Leuten generell.
Mehr als einmal hat Lauren versucht, mich ihren Freunden vorzustellen, mich zu integrieren oder gar mit Freundinnen, die ständig kichern und sich gegenseitig an den Haaren herumfummeln, zu verkuppeln, aber ich bin nicht gerade der Typ, der gern und viel redet, und so haben die anderen schnell das Interesse an mir verloren.
Im Prinzip ist es mir egal, auf was für eine Schule ich gehe. High School ist High School, ob jetzt hier oder in Boston. Schüler sind Schüler, sie reden über belangloses Zeug, meistens über andere, um von ihren eigenen Makeln und Fehlern abzulenken und nur in den seltensten Fällen überdauern Freundschaften oder gar Beziehungen, die in dieser Phase entstehen, die Zeit nach der High School.
Meine Eltern sind da eine der wenigen Ausnahmen, aber man sieht ja, wie das ausgegangen ist.Allerdings bereitet mir Sorge, dass ich sowohl meine Schwester als auch meinen Dad so lange nicht sehen werde. Und ich ahne bereits jetzt, wie meine Mom auf diese Entscheidung reagieren wird. In ihren Augen ist fast jede von Normans Entscheidungen falsch oder egoistisch und sie wird, ähnlich wie vor vier Jahren, mit aller Macht versuchen, dagegenzuhalten und mich zu sich zu holen.
Beim Gedanken daran, bei ihr zu wohnen, dreht sich mir der Magen um. Ich liebe meine Mom, aber ihr neuer Freund Jim ist ein furchtbarer Spießer. Frauen sollten seiner Meinung nach zu Hause bleiben, er verdient die Brötchen, sonntags geht man in die Kirche, nachmittags schaut man ein Footballspiel im Fernsehen. Jungs spielen Basketball oder Football, Mädchen werden Cheerleader oder vielleicht noch Ballerina. Jeden Samstag wäscht er sein Auto von Hand und mäht den Rasen, während meine Mutter in der Küche steht und das Essen kocht.
Bevor ich dort einziehe, gehe ich lieber aufs Internat.
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Geheimnisgeflüster | ✓
Teen FictionAls sein Vater geschäftlich für ein Jahr nach Indien muss, wird der zurückhaltende Vince Powers kurzerhand auf ein Jungeninternat geschickt, um sich in seinem letzten Highschooljahr optimal auf sein bevorstehendes Studium vorzubereiten. Dem Geflüst...
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