Den Rest des Dienstags und auch den Mittwoch verbringe ich damit, mich auf mein Referat in Biologie vorzubereiten. Ich verstehe das Thema ziemlich gut, ich hatte schon immer eine recht schnelle Auffassungsgabe und außerdem hatte ich das Thema in New York bereits. Vielmehr bereitet mir die Tatsache, dass ich vor Menschen sprechen soll, Sorgen.
Eine Thematik zu verstehen, ist eine Sache, sie jedoch anderen zu vermitteln, eine ganz andere.Albert ist ein sehr angenehmer Mitbewohner. Die meiste Zeit verbringen wir schweigend auf unserem Zimmer. Er spielt auf seinem Tablet oder programmiert fleißig auf seinem Laptop, ich lerne oder lese.
Leider ist der Flur enorm hellhörig, wie ich feststellen durfte, und man hört jedes Mal, wenn jemand draußen vorbeigeht oder die Jungs in den umliegenden Zimmern Besuch von anderen haben und dann lauthals lachen.
Gestern Abend, als Albert duschen war, habe ich aus dem Zimmer rechts neben uns erst leises Gemurmel und irgendwann lautes Stöhnen gehört. Entsetzt habe ich die Augen aufgerissen und musste ein wenig grinsen. Irgendjemand hat es entweder geschafft, eine blockierte Webseite zu besuchen oder ein Mädchen ins Wohnheim geschmuggelt. Oder die beiden Jungs nebenan verstehen sich sehr gut ...
Jetzt stehe ich frierend am Beckenrand des schuleigenen Schwimmbads und verfluche innerlich meinen Dad dafür, dass er mich dazu genötigt hat. Ich muss mich nicht für meinen Körper schämen, denke ich, aber die anderen Jungs, die ganz offensichtlich schon länger dabei sind, sind deutlich trainierter als ich und eine dunkle Vorahnung, dass ich mich gleich blamieren werde, überkommt mich.
Ein paar Jungs albern lachend am Beckenrand herum, ein großer Blonder lacht dabei besonders laut, bis er von einem anderen ins Wasser gestoßen wird. Mühelos zieht er sich wieder aus dem Wasser und versucht nun, den, der ihn geschubst hat, ebenfalls ins kühle Nass zu stürzen.
„Wenn ihr schon so motiviert seid", ruft plötzlich eine laute Stimme. „Könnt ihr gleich zehn Bahnen extra schwimmen, Williams und York."
Der Blonde gluckst noch immer vor sich hin, springt aber sogleich elegant ins Wasser, um in einem rasanten Tempo loszuschwimmen. Sein Konkurrent folgt ihm kurz darauf, kommt aber nicht annähernd hinterher.„Und du bist?", fragt mich der große Mann mit dem kahlrasierten Schädel. Ich zucke zusammen und murmle: „Vince Powers, Sir."
„Ach, der Neue", macht er nur. „Kannst du schwimmen?"
„Ja, Sir", erwidere ich untergeben. „Aber nicht so prof–"
„Dann zeig mal, was du kannst", fällt er mir ins Wort und stößt mich unsanft ins Wasser.Ich schnappe nach Luft und beginne verzweifelt zu kraulen. Natürlich komme ich nicht annähernd an das Tempo der anderen heran und ich höre, wie der Drill Instructor hinter mir lacht und sagt: „Seepferdchen scheint er zumindest zu haben, kann aber noch nicht lange sein."
Die Stunde ist eine einzige Tortur für mich. Wir müssen dreißig Bahnen schwimmen und anschließend durch das Becken tauchen, wobei ich natürlich kläglich versage. Völlig außer Atem hänge ich am Beckenrand und bete, dass die Zeit gleich um ist, als der Blonde neben mir auftaucht.
„Hi", lacht er mich an. „Du schwimmst noch nicht so lange, oder?"
Ich pruste und schüttle mir das Wasser aus dem Haar. „Nee", bringe ich nur hervor.
„Soll ich es dir zeigen?", bietet er an.
„Nett von dir, aber ich fürchte, das ist hoffnungslos."
Er lacht und erwidert: „Das sagt Mr. Todds immer zu mir in Literatur. Ich lese was und versteh nicht, was da steht."„Lieber lese ich zehn Bücher als das hier", schnaufe ich.
„Echt?", fragt er überrascht. „Schwimmen ist doch viel leichter als Lesen."
„Wir können ja tauschen", witzle ich und er strahlt mich an.
„Coole Idee", stimmt er mir zu. „Ich bin Hank und kann gut schwimmen."
Ich hebe meine Augenbraue und überlege kurz, ob er wirklich denkt, das mit dem Tauschen würde irgendwie funktionieren.
„Ich bin Vince und kann gut lesen", stelle ich mich stattdessen vor.„Hi, Vince", begrüßt er mich. „Du musst die Finger zusammenlassen." Er zeigt mir seine Hand und presst seine ausgestreckten Finger ganz fest aneinander.
„Okay", lache ich und imitiere seine Haltung. „Hi, Hank. Und du musst einfach nur die Buchstaben zu Wörtern formen."Er sieht mich fragend an und runzelt die Stirn. Ich schüttle den Kopf und winke ab.
„Wie wär's, wenn du mir mal in einer freien Stunde den Trick mit den Fingern zeigst und mir dann erzählst, welches Buch dir Schwierigkeiten macht?"
„Coole Idee", wiederholt er sich. „Gleich morgen?"
„Oh, morgen ist schlecht", seufze ich. „Da habe ich erst Tischlern und dann den Buchclub."„Buchclub? Wow!", macht er ehrfürchtig. „Dann am Wochenende? Oder fährst du nach Hause?"
Wieder schüttle ich den Kopf. „Nein, ich bin die ganze Zeit hier. Wochenende klingt super. Dann sage ich nur meine zwölf Dates ab."
„Du hast zwölf Dates am Wochenende?", staunt Hank mit großen Augen.
Okay, Notiz an mich: keine Ironie bei dem hier.„Das war ein Scherz, Hank", lache ich. „Wochenende geht klar. Ich bin in Zimmer neun."
„Ich bin in der zwölf."
„Alles klar."
Ich ziehe mich aus dem Wasser, denn Coach Waters, der in meinem Kopf nur noch ‚der Drill Instructor' heißt, pfeift so laut in seine Trillerpfeife, dass ich befürchte, einen bleibenden Hörschaden zu erleiden.„Und Vince?", hält Hank mich auf. „Eigentlich machen mir alle Bücher Schwierigkeiten."
Ich nicke und glaube ihm sofort. Hank ist hier vermutlich eher für sein Schwimmtalent bekannt.
„Kein Problem", lächle ich. „Bring einfach eins mit und wir beginnen damit."
„Coole Idee", freut er sich wieder und schwimmt mühelos zum anderen Beckenrand.Ich sehe zu, dass ich unter die Dusche und dann schleunigst hier rauskomme. Ich will nur noch ins Bett fallen, vielleicht noch etwas lesen und meine Ruhe haben.
An unserer Zimmertür klopfe ich wie gewöhnlich, doch statt dem üblichen „Ja." von Albert höre ich Geraschel und ein nervöses „Moment, bitte!".Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Es ist halb sechs, was kann er da schon tun, dass ich nicht reinkommen darf?
Weiteres Gemurmel ist zu hören und dann geht die Tür auf und ein Junge in meinem Alter (Überraschung, Vince: hier sind alle in deinem Alter) kommt heraus. Er ist nur unwesentlich kleiner als ich, hat dunkle braune Augen und schwarze, gestylte Haare. Seine Erscheinung bildet einen krassen Gegensatz zu unserer Schuluniform mit dem weißen Hemd, dem grauen Pullunder und der dunkelblauen Stoffhose, die er auch trägt.Am meisten verblüfft mich sein verschmitztes Grinsen, als er sich wortlos an mir vorbeischiebt.„Hey, Vince", ruft Albert von drinnen und ich betrete unser Zimmer. Alles sieht aus wie immer, nur Albert sitzt mit hochrotem Kopf auf seinem Bett und starrt in ein Heft.
„Hey", mache ich verwundert und sehe dem Unbekannten kurz hinterher, bevor ich die Tür hinter mir schließe. „Stör' ich?"
„Nein, nein", stammelt Albert und kritzelt irgendwas in sein Heft.
„Alles klar", murmele ich und nehme mir meinen E-Book-Reader von meinem Nachttisch.
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Geheimnisgeflüster | ✓
Teen FictionAls sein Vater geschäftlich für ein Jahr nach Indien muss, wird der zurückhaltende Vince Powers kurzerhand auf ein Jungeninternat geschickt, um sich in seinem letzten Highschooljahr optimal auf sein bevorstehendes Studium vorzubereiten. Dem Geflüst...
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