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Das Neunte

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Im Zimmer liegt Albert auf seinem Bett und liest. Seine Wangen sind leicht gerötet und ich betrachte ihn skeptisch. Entschlossen setze ich mich auf mein Bett, rücke den Bilderrahmen von Lauren und mir auf meinem Nachttisch gerade und sage ernst: „Können wir reden, Albert?"

Er schaut von seinem Buch auf, weicht meinem prüfenden Blick jedoch sofort aus. „Worüber denn?", fragt er unsicher.
„Darüber, was du mit diesem Typen zu schaffen hast."
„Welchem Typen?"
„Der, der in unserem Zimmer war?", erwidere ich aufgebracht.
„Ach, du meinst Noah?"

Aha. Der Dealer hat einen Namen.

„Mir egal, wie er heißt", meckere ich. „Ich finde nicht, dass du sowas nötig hast."
„Du weißt, was er macht?"
„Ich kann es mir denken und wenn er dich nicht in Ruhe lässt, melde ich das beim Dekan."
Albert runzelt verwirrt die Stirn.

„Was ist es? Marihuana? Pilze? Bitte sag nicht, es sind härtere Sachen", verhöre ich ihn.

Alberts Augenbrauen schnellen nach oben und eine Welle der Erleichterung huscht über seine Gesichtszüge. „Noah verkauft keine Drogen, Vince", sagt er ernst.
„Nicht?"
Albert schüttelt schnell seinen Kopf. „Du kannst 'ne Blutprobe nehmen, wenn du willst. Er dealt nicht, versprochen."
Erleichtert atme ich auf und fahre mit meinen Händen durch meine Haare. „Aber was habt ihr dann zu tuscheln? Also ... nicht, dass es mich was angeht, aber es machte wirklich den Eindruck als würde er ..."

„Das, was er gesagt hat", sagt Albert und sieht wieder in sein Buch. „Nachhilfe."
Ich hebe eine Augenbraue und schaue ihn fragend an.
„In?", frage ich nach, als keine weitere Erklärung folgt.
„Rhetorik."
„Rhetorik?"
„Er kann gut reden."

„Aha", mache ich. Mehr fällt mir dazu nicht ein. Mir ist nicht klar, wofür jemand Nachhilfe im Reden brauchen sollte, und ich werde das Gefühl nicht los, dass da noch was anderes im Spiel ist, was Albert mir verschweigt, aber ich spüre, dass das Thema für ihn beendet zu sein scheint.

•••

Am nächsten Morgen beim Frühstück steht plötzlich ein grinsender Hank neben mir. Fragend sehe ich ihn an. Stolz hält er ein Buch vor meine Nase.

„Das ... ist ein Buch, Hank", stelle ich fest und er nickt freudig. Albert, der mir gegenübersitzt und wieder einmal ein üppiges Frühstück in sich hineinschaufelt, schaut verwundert auf, sagt jedoch nichts.

Ich nehme Hank das kleine Buch ab, obwohl ich schon am Einband erkenne, um was es sich handelt.
„Auf Französisch?", frage ich und Hank runzelt seine Stirn. „Es gibt das Buch auch auf Französisch?"
Ich muss mir ein Grinsen verkneifen und gebe ihm das dünne, weiße Buch mit dem violetten Planeten auf dem Cover zurück.

„Ja", erkläre ich. „Antoine Saint-Exupéry ist ein französischer Schriftsteller und ursprünglich wurde der kleine Prinz auf Französisch verfasst."
„Vielleicht ist es deshalb alles so unverständlich", grübelt Hank.
„Das Buch ist überwiegend metaphorisch", sage ich.
„Mata– was?"
Ich winke ab und schüttle den Kopf. „Klären wir später."
„Coole Idee", freut sich Hank. „Erst schwimmen?"

„Ihr geht schwimmen?", fragt Albert dazwischen. „An einem Samstag?"
„Hank gibt mir Nachhilfe", erkläre ich kurz angebunden und bemerke mit kleiner Schadenfreude, dass Alberts Wangen wieder rot werden und er beschämt auf seinen Teller blickt.

Ich bin nicht nachtragend und auch nicht gern verletzend, aber ich bin mir sicher, dass die ‚Nachhilfe', die dieser Noah gibt, einen merkwürdigen Beigeschmack hat und Albert mir irgendetwas verschweigt. Wir sind zwar keine engen Freunde, aber mit mangelndem Vertrauen oder Lügen hatte ich schon immer meine Probleme.

„Cool, dass ich auch mal wem Nachhilfe geben kann", lacht Hank stolz und sieht Albert fragend an. „Willst du auch mit?"
„N-Nein, danke", stammelt Albert und stochert in seinem Rührei herum. „Ich kann schwimmen."
„Komm Hank, lass uns mal starten", schlage ich vor und stehe auf. Hank folgt mir grinsend und hält sein Buch stolz gegen seine Brust.

•••

„Finger zusammen!", schreit Hank mir hinterher, während ich mich durchs Wasser ziehe. Das Kraulen strengt unfassbar an und meine Arme fühlen sich bereits taub an.

Hank hingegen sitzt in Badehose auf einer der beheizten Bänke und liest im kleinen Prinzen. „Was soll das jetzt nochmal mit dem Hut?", überlegt er laut.

„Es ist kein Hut", schnaufe ich. „Schau auf das nächste Bild."
„Da ist eine Schlange, die einen Elefanten verschluckt hat, das hab ich ja verstanden."
„Das ist das erste Bild auch."
„Unter dem Arm atmen", ruft Hank mir zu. „Nicht darüber!"
Meine Lungen brennen und ich bekomme kaum noch Luft.

„Ich sehe da nur einen Hut", grummelt er und dreht das Buch in alle möglichen Richtungen, in der Hoffnung, etwas anderes zu erkennen.

Ich halte mich atemlos am Beckenrand fest und schnaufe: „Es ist auch die Schlange, Hank. Nur in zu. Die Haut ist drüber, darum siehst du den Elefanten nicht."

Seine Augen weiten sich mit der plötzlichen Erkenntnis und als er die Seite noch näher vor sein Gesicht hält, ruft er plötzlich: „Ach so! Und da ist auch das Auge!"

Ich lache laut auf und streiche mir die nassen Haare aus dem Gesicht.
„Vince?", fragt Hank und blickt mich zerknirscht an.
„Ja?"
„Darf ich jetzt schwimmen?"
Ich lache erleichtert auf und frage zurück: „Darf ich jetzt lesen?"

Hank lacht ebenfalls so laut, dass es in der ganzen Halle widerhallt und springt mit Anlauf und einer Arschbombe ins Wasser.

•••

„Wollen wir noch eine Runde Basketball spielen?", fragt mich Hank, als wir später zum Wohnheim zurückgehen.
„Nee, lass mal", antworte ich ehrlich. „Ich hab's nicht so mit Bällen."

Auf dem Rasen sitzen einige Jungs und lesen oder spielen Karten, weiter weg spielen welche Fußball oder Badminton. Hank kann ich ansehen, dass ihm unser kurzes Schwimmtraining noch nicht genügend Bewegung gebracht hat und so ermutige ich ihn, sich doch zu den Fußballern zu gesellen.

„Und das Buch?", fragt er zweifelnd.
„Du kannst ja erstmal eine halbe Stunde spielen und in der Zeit kann ich noch für meinen Vortrag lernen", schlage ich vor. „Und dann setzen wir uns noch an den kleinen Prinzen."

„Coole Idee", freut er sich und flitzt sofort davon. Kurz darauf kommt er zurück und grinst mich reumütig an. Ich strecke meine Hand aus und lächle.
„Gib her, ich passe auf das Buch auf", sage ich und Hank bedankt sich verlegen, bevor er wieder zu den anderen Jungs rennt.

Ich hingegen suche mir einen freien Platz weit entfernt von irgendwelchen Bällen und setze mich auf den weichen Rasen. Interessiert sehe ich mich um und erkenne von weitem diesen Noah-Typen, der mit einem der lesenden Jungs redet. Er tippt in seinem Handy herum und nickt, um kurz darauf weiterzugehen.

Ich beobachte ihn still und frage mich, ob er wirklich nur Nachhilfe gibt und warum sein Verhalten dennoch so einen zwielichtigen Eindruck auf mich macht.

Geheimnisgeflüster | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt