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Das Fünfte

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Wie Albert mir gesagt hat, habe ich tatsächlich eine eigene E-Mail-Adresse und bekomme darüber meinen Stundenplan und außerdem die Information, dass Schwimmtraining immer Montag- und Donnerstagnachmittag stattfindet. Freitagnachmittag habe ich Tischlern und direkt im Anschluss den Buchclub.

„Hey", frage ich Albert in der Hoffnung, zumindest schon eine Person etwas näher kennenzulernen. „Welche von den Nachmittagsaktivitäten machst du denn so?"
„Programmieren und Kochen", erwidert er und ich nicke.
„Beim Football wollten sie den anderen wohl zumindest eine Chance lassen, was?", grinse ich und Albert runzelt verwirrt die Stirn.
„Ich bin nicht so die Sportskanone", gibt er zu. „Was hast du?"

„Buchclub und Tischlern, alles andere war schon weg", seufze ich. „Und mein Dad hat mich zum Schwimmen genötigt."
Albert nickt mitfühlend. „Meinen Eltern war zum Glück egal, was ich mache. Denen ist ohnehin so ziemlich alles egal, was ich hier überhaupt so mache."

„Oh", mache ich. „Sind sie von der Sorte ‚Reich und keine Zeit für die Kinder'?"
Albert schnaubt und schüttelt seinen Kopf. „Eher von der Sorte ‚Wir kriegen noch fünf weitere Kinder und zum Glück hat der Große genügend Grips für ein Stipendium'."
„Du hast fünf Geschwister?", frage ich überrascht und er rollt mit den Augen.

„Yup, und vier davon sind Zwillinge."
„Also ... Vierlinge?"
„Nein, nach mir kamen Zwillinge, dann kam noch eins und dann nochmal Zwillinge", erklärt Albert.
„Wow", sage ich.
„Ja ... wow", macht er und steht auf. „Soll ich dich rumführen, oder so?"

„Äh, danke", erwidere ich etwas perplex. „Musst du nicht, mein Dad hat mir schon einiges gezeigt. Wo ... Wofür hast du das Stipendium?"
Albert rollt mit den Augen, er scheint das Thema leid zu sein. „Informatik. Ich bin ganz gut darin. Hab Glück gehabt, es gibt nur zwei Stipendien pro Semester."
„Okay", antworte ich anerkennend. „Ich kann gut lesen. Also ... ich lese gern. Und viel. Kein besonderes Talent. Egal ..."

Albert lacht und nickt. Offenbar stört es ihn nicht, dass ich nicht so recht weiß, was ich sagen soll.
„Eigentlich sind die Stipendiaten anonym", erzählt er. „In der Vergangenheit gab es da wohl einige Vorfälle, aber ich wurde recht schnell ... entlarvt ..."
Fragend sehe ich Albert an, doch er scheint seine Andeutung nicht weiter ausführen zu wollen. Stattdessen sieht er zur Tür und sagt: „Ich hole mir was in der Mensa. Sicher, dass du nicht mitkommen willst?"
Ich zucke mit den Schultern und stehe auch auf, schließlich habe ich gerade nichts Besseres zu tun.

Albert und ich gehen wortlos zur Mensa und inzwischen kommen uns mehrere Jungs in Schuluniformen entgegen. Der Unterricht ist schon vorbei und so geht wohl jeder seiner Wege. Albert wird nicht von vielen Schülern gegrüßt, die meisten ignorieren ihn vielmehr, aber ich werde neugierig beäugt, was mir überaus unangenehm ist.

„Hier sind vielleicht nur Jungs", plappert Albert, als wir in die Mensa abbiegen. „Aber wenn jemand Neues da ist, sind trotzdem alle neugierig."
„Manche Dinge sind nicht geschlechtsspezifisch", brummle ich und konzentriere mich auf die Auswahl an Schokoriegeln, die man kaufen kann.

„Hey Blumberg", ruft eine Stimme hinter uns. „Soll ich dir ein Snickers spendieren?"
Ich drehe mich um und beobachte den Jungen, der mit einem anderen dasteht und Albert herausfordernd angrinst. Der andere Schüler, der neben ihm steht und dümmlich grinst, scheint nicht die hellste Kerze auf der Torte zu sein. Albert neben mir schüttelt nur den Kopf und dreht sich wieder weg. Der rothaarige Typ mit dem markanten Gesicht legt seinen Kopf schief und betrachtet mich nun interessiert. Ich beschließe, ihn scheiße zu finden.

„Oh, wenn Albert nicht will, nehme ich gern eins, danke", sage ich trocken zu dem Penner, dessen Augen sich für einen Moment überrascht weiten.
„Nur, wenn du dann auch anschwillst wie eine Bockwurst in der Mikrowelle", kontert er hämisch.
Nachdenklich lege ich einen Finger an mein Kinn und schüttle dann den Kopf.
„Dann gebe ich lieber dir ein Snickers aus", schlussfolgere ich und wende mich der Mitarbeiterin zu.

„Ich hätte gern zwei Milky Way und ein Snickers für den jungen Mann mit dem spitzen Kinn, bitte", sage ich zuckersüß und lege ihr das Geld passend auf den Tresen. Ein Milky Way gebe ich Albert und das Snickers werfe ich König Drosselbart zu, der es leider auch gekonnt auffängt.
„Hier", rufe ich. „Hilft vielleicht gegen spitze Knochen."

Mit einem verdatterten Albert im Schlepptau gehen wir aus der Mensa und lassen diesen Möchtegern-Malfoy einfach dort stehen.
„Wieso hab ich kein Snickers?", höre ich noch von seiner Begleitung und nehme das als Bestätigung meiner Annahme, dass dieser Typ unmöglich auf Grund eines Stipendiums hier sein wird.

„Ich hoffe, du hast keine Laktoseintoleranz", sage ich und deute auf das Milky Way in Alberts Hand, als wir zurück zu unserem Zimmer gehen. „Ich wusste nur, dass da keine Erdnüsse drin sind."
„Du musst das nicht tun, Vince", sagt Albert beschämt und rückt seine Brille zurecht.
„Was? Dich nach Unverträglichkeiten fragen? Sorry."
„Nein", erwidert er. „Nur weil wir uns ein Zimmer teilen, musst du nicht unbedingt mit mir befreundet sein."

Ich bleibe stehen und Albert läuft ein paar Schritte weiter, bis er bemerkt, dass ich nicht mehr neben ihm gehe.
„Tut mir leid, Mann", sage ich. „Ich hatte nur das Gefühl, König Drosselbart da drüben ist nicht gerade dein Fan und um ehrlich zu sein, fand ich ihn einfach scheiße."
„König Drosselbart?", fragt Albert lachend.
„Ja, kennst du das Märchen? Der König hat ein großes Kinn und wird von der hochnäsigen Prinzessin als König Drosselbart bezeichnet."

Albert runzelt verwirrt die Stirn. „Und du bist die hochnäsige Prinzessin?"
Ich starre ihn entsetzt an und mache dann eine Bewegung, als würde ich mein wallendes Haar nach hinten werfen. „Ich bin nicht hochnäsig, Sir Albert." Er lacht laut auf und ich stimme mit ein. „Außerdem bezweifle ich, dass unser König Drosselbart hier ein gutes Herz wie der im Märchen hat."

Albert seufzt und nickt zustimmend. „Dort, wo andere ein Herz haben, hat Robert Irwing nur die Kreditkarte seines Vaters."
„Warum überrascht mich das nicht?", überlege ich und folge Albert in unser Zimmer.

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