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Das Zehnte

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Viel zu schnell ist Dienstag und ich wache vollkommen nervös schon eine halbe Stunde vor dem Wecker auf.

Gestern beim Schwimmtraining bin ich dank Hanks Tipps nicht ganz so unsicher gewesen, Coach Waters ließ es sich aber dennoch nicht nehmen, lauthals vor allen anderen anzumerken, dass ich auffallend langsam wäre. Abends schrieb ich meinem Dad eine zynische Nachricht.

Dad

Danke für die Anmeldung
beim Schwimmen. Coach
Waters ist ein
wahrer Sonnenschein.

Ich sehe, du liebst ihn
ebenso innig wie ich
damals. Sieht er immer
noch aus wie ein Drill
Instructor?

Ich gehe davon aus, dass
seine Familie auf eine
lange Tradition aus
Drill Instructors
zurückblicken darf und
er sein Erbe mit Würde
und Stolz trägt.

Tut mir leid, Vince. Ich
heule gerade vor Lachen.

Schön, dass du zumindest
du deinen Spaß hast.

Ich wünschte, ich wäre da.

Sie sind aber eine ganz
schöne Schnecke, Powers!
Selbst die Seekuh dort hat
Sie gerade überholt! Und die
ist tot!

Hör auf! Ich hab gleich ein
Meeting! Tut mir leid mit
dem Coach.

Schon okay, ich werd's
überleben.

Du fehlst mir, Vince.

Du fehlst mir auch, Dad.

Die kurze Konversation mit meinem Dad hatte mich zwar ein wenig aufgemuntert, aber mich ebenso daran erinnert, wie sehr er mir fehlt.

Leise stehe ich auf, denn Albert im Bett auf der anderen Seite des Zimmers atmet noch ruhig und gleichmäßig. Meine Skepsis über seine „Nachhilfe" bei diesem Noah kam nicht wieder zur Sprache und die Stimmung zwischen uns ist in den letzten beiden Tagen eher unterkühlt gewesen.

Ich weiß, ich verhalte mich nicht besonders fair, aber ich mag Albert und betrachte ihn hier neben Hank schon als eine Art Freund und bin daher besorgt um ihn. Ich sollte meinen Groll zur Seite schieben, denn vielleicht sehe ich einfach Gespenster und es steckt nichts Absonderliches dahinter. Schließlich ist Nachhilfe vollkommen legitim, Hank hilft mir ja auch beim Schwimmen und ich ihm beim Lesen.

Während ich ins Bad gehe, um in der morgendlichen Ruhe zu duschen, beschließe ich für mich, Albert und diesen Noah in Ruhe zu lassen. Albert ist immerhin auch eher ein ruhiger Typ und dieser Noah scheint sehr selbstbewusst, vielleicht ist die Nachhilfe gar nicht so schlecht für-

„Psst, hast du nochmal Shampoo für mich?", unterbricht eine Stimme neben mir meine Gedanken. Ich meine, es ist die Gleiche wie beim letzten Mal und ich reiche meine Flasche wieder über die dünne Wand.

„Kauf dir doch mal eigenes", schlage ich vor und die Stimme kichert wieder.
„Mache ich", erwidert sie. „Ich hatte nur die Marke vergessen. Deins riecht gut."
Im Nu kommt die Flasche wieder unter der Abtrennung hindurch und ich hebe sie auf.
„Danke, schätze ich", erwidere ich leise. Was sagt man auf sowas? Ich benutze seit Jahren die gleiche Marke.

„Diese Wände sind so absurd", denkt die Stimme laut nach und ich runzle die Stirn. „Wären sie nicht da, stünden wir direkt nebeneinander. Absurd wie einem auf so plumpe Art Distanz vorgegaukelt wird."

Ich schlucke und starre die Wand an, hinter der die Stimme hervorkommt.
„Das Gleiche denke ich auch immer", stimme ich zu und greife nach meinem Handtuch. Ich schlinge mir den weichen Frotteestoff um die Hüften und gehe aus der Kabine.
„Bei Toiletten ist es noch schlimmer", redet die Stimme weiter und als ich mich umdrehe, sehe ich niemand Geringeren als diesen Noah aus der Duschkabine neben meiner herauskommen.

Für einen Moment stehen wir beide nur da und starren uns an. Das Wasser perlt von seiner honiggoldenen Haut ab und ich sehe, dass seine dunklen Brustwarzen ganz hart in der kühlen Luft sind. Sein Blick ist ebenfalls auf meinen Oberkörper gerichtet und bleibt an meiner Hüfte hängen, die zum Glück von meinem Handtuch umhüllt ist.

Ich umschließe meine Shampooflasche noch fester mit meiner Hand und verlasse schon fast fluchtartig das Badezimmer. Ausgerechnet dieser Typ leiht sich schon zum zweiten Mal mein Shampoo? Mir war nicht einmal bewusst, dass sein Zimmer auch auf diesem Flur ist.

Albert schreckt hoch, als ich unsere Tür laut hinter mir ins Schloss fallen lasse, und lässt sich erleichtert auf sein Kissen zurücksinken, als er erkennt, dass nur ich es bin.

„Sorry", murmle ich und beeile mich, mich anzuziehen.
„Ist alles okay, Vince?", fragt er besorgt.
„Ja, ich hab heute nur diesen Vortrag in Bio", erkläre ich, während ich mein Hemd zuknöpfe. „Vor vielen Leuten reden ist nicht so mein Ding."
„Wem sagst du das?", pflichtet er mir bei.
„Ich geh schon mal zum Frühstück", sage ich und Albert winkt müde.
„Viel Glück beim Vortrag", ruft er mir nach, als ich unser Zimmer verlasse.

Mit meinem Kaffee sitze ich an Alberts und meinem üblichen Tisch und beobachte die wenigen anderen Jungs, die auch schon hier sind. Dieser Noah kommt ebenfalls in die Mensa geschlendert, seine Haare sind wieder aufwändig gestylt und dieses Mal trägt er sogar Klamotten.

Kurz sieht er in meine Richtung, gesellt sich aber dann zu drei anderen, die ihn freudig mit High Fives begrüßen. Ich kann nicht verstehen, worüber sie reden, aber es ist klar erkennbar, dass Noah der Wortführer in ihrer Unterhaltung ist.

•••

„Vince Powers", wird wenig später mein Name in der Biologiestunde aufgerufen. Mit schweißnassen, zittrigen Fingern gehe ich nach vorn und starre nervös auf die Notizzettel in meiner Hand.

„Phasen der Mitose", beginne ich.
„Lauter!", schreit einer der Schüler und ich sehe verzweifelt in die Gesichter der anderen, kann aber nicht erkennen, wer es war.
„Phasen der Mitose", wiederhole ich etwas lauter. „Die einzelnen Phasen der Mitose sind Prophase, Metaphase, Anaphase und Telophase. Die Prophase ist die erste Phase und kann bis zu fünf Stunden in Anspruch nehmen ..."

Einer der vermutlich cooleren Jungs in den hinteren Reihen gähnt ungeniert und allein diese Geste lässt meine Stimme wieder leiser werden und mich nur auf meine Zettel starren.

„Mr. Powers, etwas lauter, bitte", ermahnt mich der Lehrer und ich stottere den letzten Satz etwas lauter vor mich hin.

•••

„Wie lief es?", fragt Albert am Nachmittag, als er in unser Zimmer kommt und ich mürrisch in mein Buch starre, obwohl ich die aktuelle Seite schon dreimal gelesen habe.

„Hab 'ne Vier", brumme ich und Albert verzieht mitleidig sein Gesicht.
„Du hast doch die ganze Woche dafür gelernt."
„Darum hab ich auch eine Vier, denn inhaltlich war alles da", äffe ich die Worte des Lehrers nach. „Aber Sie müssen lauter sprechen, Mr. Powers und den Vortrag interessanter gestalten."

Albert lacht unbeholfen bei meiner Imitation, hört aber sofort auf, als ich ihn wütend ansehe. „Es ist fucking Mitose, verdammte Scheiße! Wie soll ich das interessant erklären? Es interessiert doch ohnehin keine Sau!"

Albert atmet mitfühlend aus und versucht dann, mich aufzumuntern: „Wenigstens hast du es jetzt hinter dir. Mit dem nächsten Test gleichst du es wieder aus."

„Oh, nein", lache ich abfällig. „Mr. Wells scheint ein Sadist zu sein. Ich darf es nächste Woche nochmal versuchen."

Geheimnisgeflüster | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt