„Ich hatte die–"
„Sechzehn, ich weiß, Dad", unterbreche ich meinen Vater, während wir den Flur im Wohnheim entlanggehen.
„Ich hab das wohl schon erwähnt", lacht er und geht zielstrebig weiter.
„Nur so ungefähr sechzehn Mal."
„Und in der Neun–", fängt er wieder an und wieder falle ich ihm ins Wort: „Waren Peter Winchester und Gordon Dotts. Auch das hast du schon mehrfach erwähnt."„Ich sollte die Klappe halten, was?", grinst mein alter Herr und bleibt vor der Tür mit der Nummer 9 stehen. Da gerade noch Unterrichtszeit ist, haben wir bis auf ein paar vereinzelte Schüler noch niemanden gesehen und das ist mir auch ganz recht so. Nichts ist schlimmer als der Neue zu sein, den alle anstarren. Das wird mir ja spätestens morgen schon bevorstehen.
„Vielleicht besser", lache ich und schließe die Tür auf.
„Du solltest vielleicht besser–" will mein Dad noch sagen, doch ich drücke die Tür auf und im Inneren des Zimmers rumpelt es.Auf einem der beiden Betten sitzt ein dunkelhaariger Junge, eine Brille schief auf der Nase und ein Buch in der Hand, was allerdings falsch herum ist, und starrt mich mit großen Augen an. Neben dem Bett liegt ein Tablet, das wohl gerade das Rumpeln verursacht hat und auf dem Display sieht man noch ein Online-Spiel, das läuft.
„Anklopfen", beendet mein Vater grinsend seinen Satz.
„Äh ... kann ich helfen?", stammelt der Junge und sieht sichtlich verwirrt aus, warum wir plötzlich in seinem Zimmer stehen.
„Hi", springt mein Dad ein und drückt sich hinter mir durch die Tür. „Das ist mein Sohn Vince, er ist der Neue hier und teilt sich mit dir sein Zimmer. Ich bin übrigens Norman Powers, ich bin auch mal hier zur Schule gegangen, aber ich war in Zimmer sechzehn und in diesem hier–"Ich schaue meinen Vater eindringlich an und murmle kopfschüttelnd: „Dad, nicht!"
Mein Dad verstummt und lächelt entschuldigend.
„Oh, okay", murmelt der Junge und legt sein Buch zur Seite, um aufzustehen und mir seine Hand zu reichen. „Ich bin Albert. Albert Blumberg."
„Hi, Albert", grüße ich ihn und schüttle die mir angebotene Hand. „Ich bin Vince. Vince Powers. Kleiner Tipp: Tablet hinter dem Buch verstecken und das Buch richtig herum, dann fällt es nicht so auf."Albert lacht unbeholfen und wieder mischt mein Dad sich ein: „Man klopft außerdem immer, so haben wir das früher gemacht, falls der im Zimmer gerade–"
„Okay!", gehe ich wieder dazwischen. „Danke, Dad!"
Albert ist nun rot angelaufen und ich ziehe meinen Vater aus dem Zimmer.
„Wir holen mal meine Sachen. Sorry, Albert. Er haut gleich ab."
„Schon okay", erwidert Albert schüchtern und winkt uns hinterher.•••
„Wenn du was brauchst, du hast meine Kreditkartendaten", sagt mein Dad am Auto, nachdem wir all meine Sachen in mein neues Zimmer gebracht haben. „Und du kannst jederzeit anrufen. Der Zeitunterschied ist etwa–"
„Dad, ich komme klar", sage ich und klopfe ihm auf die Schulter.
„Du wirst mir fehlen, Vince", sagt mein alter Herr und jetzt sehe ich wirklich Tränen in seinen Augen glitzern. Bevor er mich damit ansteckt, ziehe ich ihn in eine feste Umarmung und sage: „Du mir auch, Dad. Aber du heulst doch nur, weil du nicht hierbleiben darfst."Er lacht und schnieft ein wenig und klopft mir nochmal fest auf die Schulter, bevor er mich aus der Umarmung entlässt. Ich winke ihm nach, bis sein Auto die große Einfahrt passiert hat und mache mich dann langsam auf den Weg zurück ins Wohnheim.
Als ich den Flur entlanggehe, kommen mir einige Jungs entgegen und betrachten mich neugierig im Vorbeigehen, sagen aber nichts. Brauchen sie auch nicht, denn mir ist durchaus bewusst, dass ich heraussteche mit meiner Jeans und meinem einfachen schwarzen T-Shirt, denn sie tragen alle diese Schuluniformen.
Vor meiner Zimmertür befolge ich dieses Mal den Rat meines Vaters und klopfe an. Erst als Alberts verwirrtes „Ja?" erklingt, öffne ich die Tür.
„Hey", sage ich. „Ich bin's nur."
Albert lacht und meint: „Du musst aber nicht immer klopfen."
Ich zucke mit den Schultern und stehe unschlüssig herum.Erst jetzt habe ich Zeit, das Zimmer zu betrachten, und bin angenehm überrascht. Es ist erstaunlich komfortabel mit zwei Schreibtischen, zwei Kleiderschränken und sogar einem kleinen Fernseher an der Wand.
„Die rechte Seite ist deine, ist das okay?", fragt Albert und ich nicke lächelnd. Er wohnt länger hier, also bin ich froh, überhaupt meinen eigenen Platz zu haben.„Im Schrank hängen drei Uniformen, die Reinigung ist im Keller", fängt er an zu erklären. „Das große Badezimmer mit den Duschen ist den Flur entlang, aber wir haben hier zumindest eine eigene Toilette und ein Waschbecken. Das Privileg haben nur die Zehnt- und Elftklässler, sei froh, dass du nicht seit der Siebten hier bist und dir mit zwanzig anderen Jungs auf dem Flur vier Klos teilen musstest."
Ich reiße entsetzt die Augen auf und Albert lacht verlegen.
„Deinen Stundenplan hast du sicher schon per Mail bekommen", erzählt er weiter. „Jeder hat eine eigene E-Mail-Adresse und das Passwort ist immer das Geburtsdatum. Darin steht auch das W-LAN-Kennwort, aber mach dir keine Hoffnung, Streaming-Dienste und alle Webseiten, die ... naja ... Spaß machen, sind blockiert."„Ich lese ohnehin lieber", merke ich an und beginne, meine Bücher aus der Kiste in das Regal über meinem Bett zu sortieren.
„Ich auch, aber ... naja... Jungs sind eben Jungs und sie wollen wohl verhindern, dass einer das Schulnetzwerk lahmlegt, weil er sich Fickhof der Muschitiere 2 ansieht und dabei einen Kryptovirus mitbringt", überlegt Albert und ich lache laut auf.„Keine Sorge, Teil 2 ist furchtbar", antworte ich und Alberts Augen fallen fast aus seinem Kopf. Offenbar ist ihm Ironie nicht so geläufig.
Ich winke ab. „Das war ein Scherz, Albert", stelle ich klar. „Ich hab bis eben noch nie davon gehört."
„Na klar, na klar", lacht er verlegen. „Wusste ich doch."
„Warum bist du nicht im Unterricht?", möchte ich wissen und er wird wieder rot.
„Allergische Reaktion", gibt er zu und ich runzle verwirrt die Stirn. „Ich bin allergisch auf Erdnüsse und gestern war wohl eine im Abendessen und da... schwillt so ziemlich jede Drüse in meinem Körper an."
„Oh", mache ich entsetzt.
„Ich sah aus wie eine menschliche Weintraube", lacht er unbeholfen. „Cortisontabletten helfen ganz gut, aber heute sollte ich noch im Bett bleiben."„Das ist ganz schön gefährlich", stelle ich fest und packe den restlichen Inhalt meiner Kiste aus. Zuletzt stelle ich einen Bilderrahmen mit einem Bild von Lauren und mir auf meinen Nachttisch und lasse mich auf mein Bett fallen.
„Naja, ich sterbe nicht daran, es sieht nur scheiße aus", tut Albert es ab.
„Werden die Allergene bei den Gerichten nicht ausgewiesen?"
„Doch, aber ...", fängt Albert an, zuckt dann aber gleichgültig mit den Schultern.Okay, vielleicht ist er es auch einfach leid, darüber zu reden. Ich bin vermutlich nicht der Erste, der ihn dazu ausfragt.
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Geheimnisgeflüster | ✓
Teen FictionAls sein Vater geschäftlich für ein Jahr nach Indien muss, wird der zurückhaltende Vince Powers kurzerhand auf ein Jungeninternat geschickt, um sich in seinem letzten Highschooljahr optimal auf sein bevorstehendes Studium vorzubereiten. Dem Geflüst...
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