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Das Sechste

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Da mir bewusst ist, dass ich heute vermutlich unzähligen neugierigen Blicken ausgesetzt sein werde, habe ich mir meinen Wecker absichtlich früher gestellt, damit ich zumindest unter der Dusche meine Ruhe habe. Zwar befinden sich auf unserem Flur mit zwanzig Zimmern à zwei Leuten sogar vier Badezimmer mit Duschen, aber ich kann mir vorstellen, dass es zu morgendlichen Stoßzeiten dennoch sehr voll werden kann.

Es gibt vier zumindest seitlich abgetrennte Duschkabinen, deren Vorhänge einem zumindest halbwegs so etwas wie Anonymität vorgaukeln. Wie schon so oft in meinem Leben denke ich darüber nach, dass allein diese Barrieren einem die Isolation von den anderen vortäuschen und stelle mir vor, wie es wäre, wenn die dünnen Wände plötzlich verschwänden.

„Hast du da drüben Shampoo?", fragt plötzlich eine Stimme von nebenan und ich zucke buchstäblich vor Schreck zusammen. Unter der Dusche kann ich immer am besten nachdenken und es wird wohl einige Zeit dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe, nicht unbedingt allein in solchen Momenten zu sein.

„Äh ... klar ...", stammele ich und schiebe meine Shampooflasche unter der dünnen Wand hindurch.
„Danke, Mann", sagt die Stimme und ich dusche die Schaumreste von meinem Körper. Die Flasche rutscht zurück unter der Wand hindurch und die Stimme kichert. Ich drehe mein Wasser ab und schlinge mir mein Handtuch um die Hüften.

Unauffällig schnuppere ich am Kopf der Flasche. Riecht mein Shampoo komisch, dass er lachen muss? Eigentlich riecht es ganz normal. Ohne das merkwürdige Kichern weiter zu hinterfragen, nehme ich meinen Stapel Klamotten und gehe zurück in Alberts und mein Zimmer.

Mein neuer Mitbewohner sitzt zerzaust und noch vollkommen desorientiert auf seinem Bett und starrt mich an.
„Hi", sagt er und ich nicke freundlich. „Du stehst früh auf."
„Warmes Wasser", antworte ich nur und beginne, mich anzuziehen.
„Uniform", erinnert mich Albert und ich sehe verdutzt an mir herab. Das hatte ich vergessen. Augenrollend ziehe ich mir mein T-Shirt wieder über den Kopf und suche mir meine Schuluniform aus dem Schrank.

Zwanzig Minuten später gehen Albert und ich gemeinsam in die Mensa, um etwas zum Frühstück zu bekommen. Die neugierigen Blicke, die mir folgen, entgehen mir natürlich nicht, jedoch ignoriere ich sie gekonnt. Ich bin generell kein Freund davon, morgens etwas zu essen, und so begnüge ich mich mit einer Tasse Kaffee und einer trockenen Scheibe Toast. Albert hingegen belädt sich sein Tablett mit allem, was es gibt: Brötchen, Cornflakes, Müsli, Obstsalat, Rührei, Speck.

Wir setzen uns an einen der freien Tische und Albert beginnt sofort, das Essen in sich hineinzuschaufeln. Skeptisch betrachte ich ihn und frage mich insgeheim, wo ein dünner Kerl wie Albert so viele Kalorien lässt.
„Na, Blumberg?", höhnt eine Stimme im Vorbeigehen. „Soll ich dir noch eine Tupperdose bringen, damit du was für später hast?"

Albert erstarrt in seiner Bewegung, sieht aber nicht zu diesem widerlichen Typen auf. Ich starre meinen Mitbewohner eindringlich an und als er nichts sagt, hebe ich meinen Kopf und lächle den rothaarigen Bastard zuckersüß an.
„Danke, wir haben noch. Wir hätten dann gern die Rechnung", sage ich höflich und wende mich dann wieder Albert zu.

„Ich weiß, wer du bist", knurrt Möchtegern-Malfoy neben mir. Mit erhobenen Augenbrauen sehe ich ihn erneut an und warte darauf, was er sagt. Eine Vielzahl an möglichen Antworten liegt mir auf der Zunge – „bitte verrate niemandem, dass ich Batman bin" nur eine davon – doch ich schweige und sehe ihn einfach nur unschuldig an.

„Vincent Norman Powers, aus New York", zitiert das Ekel. „Eltern geschieden, er lebt bei seinem Vater, Norman Powers, der Key Account Manager einer Firma für Hygieneartikel ist. Geschätztes Jahreseinkommen 750.000 Dollar. Nett, Tampon-Boy."

Der dumme Troll neben ihm lacht stumpf und Robert selbst grinst ebenfalls selbstgefällig.
„Oh", sage ich überrascht. „Das tut mir leid, ich weiß jetzt gar nichts über dich. Kann ich das nachreichen? Ich setze mich gleich heute Nachmittag an stupidedia, um alle notwendigen Informationen herauszufinden. Deine Bestellung für Herreninkontinenzunterhosen habe ich meinem Dad schon weitergegeben."

Ich stehe auf und gehe einfach an dem arroganten Schnösel mit seinem kantigen Kinn vorbei und bringe mein Tablett zur Abgabestation. Albert folgt mir schnellen Schrittes und murmelt leise: „Vince, es ist keine gute Idee, sich mit Robert Irwing anzulegen. Sein Vater ist einer der größten Wohltäter der Schule und–"
„Albert", unterbreche ich ihn. „Er ist ein Ekel und führt sich auf, als wäre er hier der King. Sorry, aber dann bin ich lieber unbeliebt."

Albert starrt mich nur ehrfürchtig an, sagt aber nichts mehr. Vielmehr erkenne ich in seinem Blick tiefe Dankbarkeit. „Kannst du mir sagen, wo ich das Biologielabor finde?"
„K-Klar", stammelt Albert und setzt sich in Bewegung. Er begleitet mich in den Naturwissenschaftstrakt und verabschiedet sich dann von mir.

Glücklicherweise ist dieses arrogante Ekel nicht in meinem Kurs und so setze ich mich auf einen freien Platz und folge dem Unterricht. Zu meiner großen Enttäuschung werden ausgerechnet heute Themen für Kurzvorträge vergeben und ich hoffe, dass es vielleicht zu wenige gibt und ich eventuell mit jemand anderem einen der Vorträge halten muss.

Nichts verabscheue ich mehr als vor Menschen sprechen zu müssen. Ich bin nicht gerade derjenige, der gern im Mittelpunkt steht und so schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass ich jemandem zugeteilt werde und gern alle Inhalte ausarbeiten darf, solange nur die andere Person das Reden übernimmt und ich dekorativ–

Der Lehrer kommt mit einer Schüssel voller Zettel zu meinem Tisch und sieht mich ermunternd an. Keine Gruppenarbeit, wie es aussieht. Hervorragend. Zögerlich greife ich zwischen die vielen weißen Blättchen und ziehe eines hervor.

Mitose Phasen steht darauf. Wunderbar, ich freue mich. Nicht.

„Bitte denkt daran, die Vorträge nicht länger als fünfzehn Minuten zu halten, damit wir möglichst schnell mit allen durchkommen", faselt der Lehrer vorn und ich unterdrücke ein Seufzen. Nachdem er seine Liste mit den Themen durchgegangen und sich jeder melden musste, wenn sein Thema aufgerufen wurde, steht fest: ich darf schon in der kommenden Woche einen Vortrag über die Phasen der Mitose halten.

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