„Was meinst du mit Internat, Vince?", fragt Lauren, während sie sich in einem kleinen Handspiegel betrachtet und ihren Lippenstift nachzieht.
Wir sitzen auf der Tischtennisplatte neben dem Sportplatz, ich trinke Kaffee, den ich immer in einer Thermoskanne mitbringe, aus einem kleinen Kaffeebecher und neben Lauren steht irgendein kalorienloser Shake.„Internat eben", sage ich. „Eine Schule, wo man auch wohnt."
„Warum kommst du nicht zu uns? Mom und Jimbo würden sich so freuen."
„Jimbo?", mache ich angewidert. „Du nennst ihn jetzt Jimbo?"
„Vince, er ist gar nicht so schlimm, wie du denkst."
„Lauren, beim letzten Mal hat er mich gefragt, ob ich was verbockt habe, dass ich so viel lesen muss, denn freiwillig tun Männer sowas bestimmt nicht", meckere ich.„Er ist eben konservativ", sagt sie und klappt den Spiegel zu.
„Vorsintflutlich, altertümlich, rückständig, altbacken, um nur einige treffendere Bezeichnungen für ihn zu finden", zähle ich auf.
„Aber dann sehen wir uns gar nicht mehr", seufzt Lauren und legt ihren Kopf auf meine Schulter.„Wir sehen uns so auch kaum", erwidere ich. „Das ist auch okay, wir können doch skypen."„Und was ist mit Ronda?"
„Wem?"
„Ronda Donovan", erläutert meine Schwester. „Blond, groß, dicke Hupen. Sie steht auf dich."Ich hebe meine Augenbrauen und spüre, wie meine Wangen sich röten. „Präzise Personenbeschreibung, danke, Lauren."
Sie lacht und sieht mich wieder an. „Du hast Bäckchen", freut sie sich und streicht über meine Wange. „Das mag sie. Sie schwärmt von deinen roten Bäckchen."Ich stoße ihre Hand weg und brumme: „Hör auf damit! Ich weiß nicht mal, wer sie ist."
„Sie sitzt in Englisch zwei Plätze neben dir."
„Ist das die Dumme?"
„Sie ist nicht dumm."
„Lauren, sie hat gesagt ‚The dog bells'. In der elften Klasse!"
„Sie hat es verwechselt!"
„Ihr Gehirn mit einem Puderpinsel? Ganz richtig."Lauren stößt mich unsanft von der Seite an. „Und du wunderst dich, dass du Single bist?", motzt sie.
„Nein", korrigiere ich sie. „Du wunderst dich, dass ich Single bin. Ich bin ganz fein damit."
„Naja", erwidert sie schnippisch. „Das wird ja wohl dann für das nächste Jahr auch so bleiben, wenn du auf ein reines Jungeninternat gehst. Es sei denn, du kommst hinterher schwul zurück."Ich verschlucke mich fast an meinem Kaffee und sie lacht laut auf, weil mir die schwarze Flüssigkeit am Kinn hinabläuft. „Dein geliebter Jimbo würde mich dann bestimmt zu einem Exorzisten bringen", murmle ich und suche verzweifelt nach einem Taschentuch in meiner Jackentasche.
Ganz selbstverständlich zaubert Lauren eins aus ihrer Handtasche und tupft damit mein Kinn ab. „Wohl eher zu einem Psychiater, aber dann würde ich ihm die Hölle heiß machen", sagt sie liebevoll. „Wenn dein neuer Freund hübsch ist und dir was Tolles anzieht, darfst du von mir aus auch schwul wiederkommen."
Nun bin ich derjenige, der lacht. „Schön, dass du so großen Wert auf die wichtigen Dinge legst."
•••
„Vince, hast du alles?", ruft mein Vater und ich komme gerade mit meinem Rucksack die Treppe herunter.
„Ja, Dad", antworte ich zum gefühlt zwölften Mal. „Die anderen beiden Koffer sind schon im Auto und der Karton mit den Büchern auch."
„Warum nimmst du die nochmal mit?", will er wissen und nimmt mir den Rucksack ab.
„Als Ersatz, falls sie dort kein Toilettenpapier haben", erwidere ich ironisch.
„Ich habe dir drei Rollen in deinen Kulturbeutel geschmuggelt", grinst er. „Damit solltest du den ersten Tag gerade so über die Runden kommen."
Er lacht laut und ich stimme herzlich mit ein. Das wird mir am meisten fehlen, diese kleinen Sticheleien mit meinem Dad.Ohne, dass er es bewusst getan hat, hat mein Dad mir den Abschied in den vergangenen Wochen noch schwerer gemacht. Es waren Herbstferien und wir sind beide nach Montana gefahren und haben dort eine kleine Hütte an einem See ganz für uns gehabt. Zwei Wochen Angeln, Baden im kalten See, Holzhacken für den Kamin und einfach nur still nebeneinandersitzen oder eben einen dummen Witz auf Kosten des anderen reißen.
Jim wäre stolz auf uns gewesen, wie zwei richtige Männer haben wir uns selbst versorgt, aber ich habe auch die meiste Zeit auf der Veranda gesessen, auf den See hinausgestarrt und unfassbar viel gelesen, so dass wir nach der Hälfte der Zeit ins nahegelegene Dorf fahren und den dortigen Buchladen aufsuchen mussten.
Die Fahrt zum Internat dauert etwa vier Stunden und nachdem ich ein wenig gelesen habe, lehne ich meinen Kopf an die Scheibe und nicke ein.
„Vince?", weckt mich die ruhige Stimme meines Vaters. „Wir sind gleich da."
Verschlafen reibe ich mir das Auge und sehe nach draußen.Da es bereits Mitte September ist, werden die Bäume allmählich gelb und rot und leuchten in den schönsten Farben. Der Herbst ist tatsächlich meine liebste Jahreszeit. Vor uns erkenne ich eine große Einfahrt und dahinter ein imposantes Backsteingebäude. Das ganze Gelände scheint wie eine Art Park aufgebaut zu sein, man sieht hier und da Jungs und junge Männer in meinem Alter, alle in Schuluniformen, wie es scheint.
Hinter dem großen Gebäude, das mich fast an Hogwarts aus der Harry Potter Reihe erinnert, sehe ich mehrere kleine Häuser, die wohl die Unterkünfte für die Internatsschüler sind.
„Ich habe gar keine Eule bekommen", sage ich und mein Vater lacht.
„Die habe ich abgefangen", erwidert er schmunzelnd, als er auf einem der Besucherparkplätze hält. „Aber sie hat etwas für dich dagelassen."Fragend sehe ich ihn an und er zieht ein schwarzes Ding, etwa in der Größe eines Taschenbuchs hervor.
„Ernsthaft, Dad?", meckere ich. „Du weißt doch, was ich von den Dingern halte."
„Ich weiß", winkt er ab. „Aber vielleicht versuchst du es trotzdem. Ich habe dir schon ein paar Bücher darauf geladen und du hast ein unbegrenztes Abonnement für eine Onlinebücherei."
„Danke, Dad", freue ich mich dennoch und nehme ihm den E-Book-Reader ab.
„So", klatscht mein Vater aufgeregt in die Hände. „Gehen wir mal rein. Ich frage mich, ob Mrs. Grimson immer noch im Sekretariat arbeitet."
Skeptisch hebe ich eine Augenbraue. „Du wirst jetzt aber nicht jeden grüßen und allen erzählen, dass du auch hier zur Schule gegangen bist, oder?"Unschuldig sieht mein Dad mich an. „Ich? Niemals. Das mache ich erst später, wenn ich dir dein Bett beziehe und deinen Zimmerkameraden kennenlerne."
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Geheimnisgeflüster | ✓
Teen FictionAls sein Vater geschäftlich für ein Jahr nach Indien muss, wird der zurückhaltende Vince Powers kurzerhand auf ein Jungeninternat geschickt, um sich in seinem letzten Highschooljahr optimal auf sein bevorstehendes Studium vorzubereiten. Dem Geflüst...
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