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Das Achte

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Tischlern stellt sich als deutlich angenehmer heraus als Schwimmen. Als ich die Werkstatt betrete, umgibt mich sofort der unvergleichliche Geruch von unbehandeltem Holz und Sägespänen. Augenblicklich entspanne ich mich und atme tief ein. Selbst wenn ich hier nur unnütze Brieföffner oder Bilderrahmen herstelle, so kann ich doch zumindest mit dem mir liebsten Material arbeiten und jede Woche diesen Duft atmen.

„Hey", werde ich von einem freundlich lächelnden Lehrer begrüßt. „Du bist der Neue."
Ich zucke mit den Schultern und stelle mich vor: „Vince Powers, Sir."
„Das ‚Sir' kannst du dir sparen", grinst er. „Ich bin Mr. Higgs, aber du kannst mich auch Stan nennen."
Überrascht hebe ich die Augenbrauen und er lacht laut. „Schon mal was mit Holz gemacht, Vince?"
Ich schüttle den Kopf. „Nein, aber ich liebe den Geruch."

„Dann wirst du dich hier sehr wohlfühlen", freut er sich. „Wir haben hier ein paar Projekte zum Einstieg, vielleicht suchst du dir erst einmal davon eins zum Probieren aus."

Er reicht mir einige Zettel, auf denen erklärt ist, wie man verschiedene Dinge aus Holz herstellen kann. Eine Buchstütze, ein Insektenhotel und auch ein Bilderrahmen.

„Ich würde die Buchstütze probieren", entscheide ich mich sofort und Mr. Higgs nickt lächelnd. „Super Entscheidung. Die Materialien findest du dort drüben in dem kleinen Raum und dann versuchst du es erstmal mit der Anleitung. Wenn du Hilfe brauchst, schreist du einfach."
Er geht durch die Werkstatt zu einem der anderen Schüler und zeigt ihm, wie er effektiver mit der Feile umgehen kann. Begeistert mache ich mich ans Werk und suche mir die aufgeführten Werkzeuge und Materialien zusammen.

Eine Stunde später halte ich zwei selbst von mir hergestellte Buchstützen in den Händen und bin wirklich stolz auf mich selbst.
„Gute Arbeit, Vince", lobt mich Mr. Higgs und klopft mir anerkennend auf die Schulter.

Ich schaue auf die Uhr an der Wand und stelle fest, dass ich in fünf Minuten beim Buchclub sein muss. Ich verabschiede mich also von meinem neuen Lehrer und mache mich schnell auf den Weg in Richtung Bibliothek.

Im Flur vor der Mensa entdecke ich von Weitem Albert, der sich anscheinend mit jemandem unterhält. Als ich mich ihnen nähere, erkenne ich den Typen, der gestern aus unserem Zimmer kam, und die Unterhaltung gleicht eher einer Diskussion.

„Heute geht es aber nicht", zischt Albert dem Typen zu.
„Nun, Mr. Blumberg", erwidert der andere süffisant. „Dann kann ich Ihnen erst in zwei Wochen wieder einen Termin anbieten."
„Aber ... aber ... ich konnte doch nicht wissen, dass–" In diesem Moment erblickt Albert mich und winkt mir unbeholfen zu. „Hey, Vince."

Der andere dreht sich um und betrachtet mich interessiert.
„Hallo", sage ich und sehe fragend zwischen den beiden hin und her, denn natürlich verstummt ihr Gespräch sofort.

„W-Was machst du denn hier?", stammelt mein Mitbewohner.
„Ich bin auf dem Weg zum Buchclub. Und ihr so?", frage ich zurück.
„Oh ... wir ... äh ...", stottert Albert hilflos, doch der Typ mit den auffällig gestylten Haaren lehnt sich nonchalant an die Wand neben ihm und grinst mich an. „Albert und ich vereinbaren gerade einen weiteren Termin."

„Termin", wiederhole ich skeptisch.
„Nachhilfe", erklärt der Typ und Alberts Kopf nickt so schnell wie der von einem Wackeldackel.„Okay", erwidere ich misstrauisch.
„Wenn du auch mal Nachhilfe brauchst, kann Albert dir gern meine Kontaktdaten geben", murmelt der Junge mit den dunklen Augen geheimnisvoll und grinst wieder so unverschämt dabei.

Albert schüttelt vermeintlich unauffällig mit dem Kopf, um ihm wohl zu bedeuten, dass er das lassen soll, doch entweder merkt er es nicht oder er entscheidet sich dafür, meinen ohnehin schon gebeutelten Mitbewohner zu ignorieren. Mir jedoch entgeht das Schauspiel ganz und gar nicht und ich beginne, mir Sorgen um Albert zu machen.
Der Typ ist mir suspekt und ich starre ihn einfach nur an, als ich sage: „Danke, aber nein danke. Ich habe keinen Bedarf."

Sein Grinsen wird noch breiter und ich habe das Gefühl, dass er sich von mir herausgefordert fühlt.
„Sag niemals nie", säuselt er. „Wie war doch gleich dein Name?"

„Den habe ich dir noch gar nicht verraten", schnappe ich zurück. „Und ich bin sicher, Albert kommt auch ganz gut ohne dich zurecht."

„Oh", lächelt er milde in Alberts Richtung. „Aber etwas Unterstützung tut jedem mal ganz gut. Richtig, Albert?"

Alberts Gesicht ist nun tiefrot und er tritt nervös von einem Fuß auf den anderen.

„Wie nanntest du ihn? Vince? Ist das dein vollständiger Name? Das klingt so ... plump."

Ich schnaube und schüttle meinen Kopf. „Nun, ganz sicher nicht so plump, wie du hier versuchst, neue Kundschaft zu akquirieren. Ich muss dann mal weiter."

Ich drehe mich von den beiden Jungs weg und eile weiter in Richtung Bibliothek. Für heute Abend nehme ich mir vor, ein ernstes Wort mit Albert zu reden. Dass dieser Robert ihn so fertigmacht, ist eine Sache, aber dass er anscheinend von diesem Schnösel Drogen oder andere Dinge kauft, das muss sofort aufhören. Ich überlege, bei wem ich mir Hilfe holen könnte, doch ich bin noch zu neu hier, als dass ich direkt solch große Wellen schlagen möchte. Besser, ich spreche erst einmal direkt mit Albert und versuche, ihn zur Vernunft zu bringen.

Der Buchclub stellt sich als eine kleine, nette Runde heraus. Die Lehrerin, Mrs. Thomson, ist freundlich und begeistert, mich als viertes Mitglied in der Gruppe begrüßen zu können. Da sie vor den Ferien erst ein Buch beendet haben, fragt mich Mrs. Thomson, ob ich einen speziellen Wunsch oder ein Lieblingsbuch hätte.

Nach einer kurzen Austauschrunde stellt sich heraus, dass einige meiner Lieblingsbücher wie ‚Fahrenheit 451' und ‚Das Parfum' schon gelesen wurden, aber selbst Mrs. Thomson ist ein weiterer meiner Favoriten nicht bekannt und so wird beschlossen, dass die Gruppe beginnt, ‚Die gute Erde' zu lesen.

Ich selbst habe das Buch zwar schon einige Male gelesen, doch es gehört nicht umsonst zu meinen Lieblingsbüchern und so freue ich mich, es nochmals zu lesen und dieses Mal sogar die Möglichkeit zu haben, mich mit anderen darüber austauschen zu können.

Als ich den Flur zu unserem Zimmer entlanggehe, öffnet sich am Ende des Gangs eine Tür und der Typ, den ich in meinem Kopf nun nur noch als ‚den Dealer' bezeichne, kommt heraus. Er redet kurz mit dem Bewohner des Zimmers, lacht süffisant und bekommt etwas in die Hand gedrückt, bevor sich die Tür schließt. Ich betrachte ihn argwöhnisch und er grinst mich breit an, als wir auf einer Höhe sind.

„Einen schönen Abend noch, Vincent", murmelt er grinsend und geht weiter, während ich mich mit einem finsteren Blick nach ihm umdrehe.

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