Ein neues Leben

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Einige Wochen waren vergangen, seit der Brief angekommen und sein Leben erneut auf den Kopf gestellt worden war. Heute würde es losgehen. Heute, am ersten September, würde er nach Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei, kommen.

Remus umklammerte die Fahrkarte fest mit den Händen, hatte Angst, sie zu verlieren. Sie war im Augenblick das Wertvollste, das er besaß, und er würde sie auf keinen Fall aus den Augen lassen. Für ihn war sie weit mehr, als nur eine Zugfahrkarte – sie war der Eintritt in ein normales Leben.

Hope und Lyall gingen schweigend neben ihm her, warfen ihrem Sohn nur ab und zu nervöse und zugleich freudige Blicke zu. Ein Taxi oder dergleichen konnten sie sich nicht leisten, deshalb gingen sie zu Fuß zum Bahnhof King's Cross. Der Weg war lang und der ausgebeulte Koffer schwer (trotz der Tatsache, dass Lyall mit seinem Zauberstab unauffällig ein wenig nachhalf), doch als sie die riesige Eingangshalle erreichten, war das Staunen der kleinen Familie umso größer. Sie waren in all den Jahren, die sie hier lebten, noch nie in diesen Hallen gewesen; zumindest bis auf Hope, doch das war schon so lange her, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte. Und Lyall selbst hatte den Bahnhof seit seiner Kindheit nicht mehr betreten.

Remus drückte die Fahrkarte noch fester an sich, die Augen weit geöffnet, um ja kein Detail zu verpassen. Überall waren Menschen, vielleicht sogar mehr als in der Winkelgasse, in welcher sie erst vor Kurzem gewesen waren. Remus sah hinab auf seine Fahrkarte, die im Licht zu schimmern schien. „Gleis Neundreiviertel?", las er einmal mehr. Er hatte die Karte in den letzten Wochen oft genug angesehen, war aber immer noch verwirrt wegen der merkwürdigen Zahl. Sein Vater hatte nur wissend gelächelt, als er ihn danach gefragt hatte. Er hatte gemeint, er würde ihm auf dem Bahnhof zeigen, was es damit auf sich hatte.

Lyall musste lächeln und drückte seinen Sohn an sich. „Ja, Neundreiviertel. Ihr werdet schon sehen, was ich meine. Da vorn ist Bahnsteig Neun, da müssen wir hin." Er warf Hope einen vielsagenden Blick zu und führte sie durch die Menschenmassen zu den Bahnsteigen Neun und Zehn.

Unterwegs konnte Remus das ein oder andere Kind ausmachen, das eine Eule auf dem Koffer vor sich herschob. Er selbst hatte kein Tier dabei. Das wäre zu teuer gewesen. Außerdem hatte ihm sein Vater gesagt, er könne sich auch einfach eine Eule von Hogwarts leihen, um einen Brief zu verschicken. Trotzdem war er ein klein wenig traurig deswegen. Doch die Vorfreude auf das Kommende ließ ihn das schnell vergessen.

Er rief sich den Brief von Professor Dumbledore ins Gedächtnis, den er so oft gelesen hatte, dass er ihn nun auswendig konnte. Pure Freude durchströmte ihn, doch als Lyall stehenblieb und zu erklären begann, wurde er wieder nervös.

„Es ist ganz einfach", sagte sein Vater. „Seht ihr die Absperrung zwischen Gleis Neun und Zehn? Ihr müsst einfach darauf zugehen und nicht stehen bleiben. Keine Panik, euch kann nichts passieren. Versprochen."

Remus schluckte die aufkommende Panik hinunter. Hatte er richtig gehört? Verlangte sein Vater wirklich, dass er gegen eine Wand lief? Er drehte sich zu seinen Eltern um, die sich nun an den Händen hielten. Hope schien genauso verängstigt zu sein wie ihr Sohn.

„Hab keine Angst", munterte Lyall Remus auf. „Wir sind direkt hinter dir."

Keine Panik, sagte sich Remus in Gedanken noch einmal, bevor er sich der Absperrung zuwandte, tief Luft holte und losging. Die Mauer kam immer näher und näher. Ein Kind sah ihm dabei zu und deutete mit dem Finger auf ihn. Die Mauer war jetzt direkt vor ihm und er wollte schon die Augen schließen, doch ehe er sich versehen hatte, sah er eine riesige, scharlachrote Lok, die freudig vor sich hin dampfte.

Nur wenige Sekunden später tauchten seine Eltern neben ihm auf. „War doch leicht, nicht wahr?" Lyall klopfte ihm stolz auf die Schulter.

Als sich Remus umsah, erkannte er, dass der Bahnsteig, auf dem sie gelandet waren, sich von den anderen in King's Cross unterschied, nicht nur wegen der Lok, sondern auch wegen der Leute hier. Es waren alles Hexen und Zauberer, die sich von ihren Kindern verabschiedeten. Funken in verschiedenen Farben flogen durch die Luft und explodierten wie kleine Feuerwerke. Eulen und Katzen sah man hier ausgesprochen oft in diversen Käfigen klacken und maunzen. Doch etwas anderes zog Remus' Blick auf sich: zwei Mädchen, die sich offensichtlich gerade stritten. Das eine hatte dunkelrotes Haar und war blass, während das andere ein wenig älter und hochnäsiger aussah.

The Marauders' Book - Jahr 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt