Aussprache

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Es war Donnerstag, als Oskar leicht entnervt den Hörer auf die Station knallte.

»Lynn, weißt du, wo – ?«

Er hielt inne, als er bemerkte, dass seine Kollegin ein Telefongespräch führte, betrachtete sie für ein paar Sekunden und seufzte schließlich leise.

Seit Montag hatten sie aus Zeitmangel von beiden Seiten aus keine Gelegenheit gefunden, ein längeres, privates Gespräch zu führen und Oskar fragte sich einen Moment, ob er der Einzige war, den es störte, sich nur noch im Büro sehen zu können.

Lynn hatte ihm gestern erzählt, dass Simon heute vorbeikommen würde, also wäre sie auch diesen Abend wieder beschäftigt. Und Oskar wusste noch immer nicht, ob Lynns Familie mittlerweile von ihrer Beziehung wusste.

Hatte Lynn beim Brunch die Katze aus dem Sack gelassen, dass er nicht nur der nette Kollege und zufällig auch Nachbar von ihr war, wie ihr Bruder ihn am Telefon angekündigt hatte? Aber hätte dieser ihn dann nicht schon längst angerufen oder zumindest angeschrieben?

All das und noch einiges mehr schwirrten in Oskars Kopf herum. Ein Gedanke poppte dabei ganz deutlich und nicht zum ersten Mal auf: Er vermisste Lynn.

Er konnte dabei gar nicht genau sagen, was ihm fehlte, aber allein, dass er ihr morgens und zum Feierabend nur einen kurzen Kuss geben konnte und durfte, machte ihn wahnsinnig.

Die Schmatzer und Umarmungen, die er nun wieder täglich von seiner Mutter bekam, kamen ihm fast schon leidenschaftlicher vor als das, was sich zwischen ihm und Lynn abspielte.

Oskar verstand sich manchmal selbst nicht. Warum brachte er Lynn gegenüber noch immer so viel Geduld auf? Aber dann fiel ihm ein, was für ein unglaublich befriedigendes Gefühl es ihm jedes Mal gab, wenn ihre Augen wegen ihm anfingen zu leuchten.

Er wollte dieses Strahlen in Gold, Braun und Grün einfach viel öfter sehen. Mehr von ihr und ihrem Leben erfahren. Und er wünschte sich zunehmend sogar, einen größeren Platz darin einzunehmen. Was, wie so vieles, was mit Lynn zu tun hatte, ein ganz neues und aufwühlendes Gefühl für ihn war.

Oskar musterte Lynn von oben bis unten und erwischte sich dabei, wie er daran dachte, was sich für ein Körper unter der weiten, hellen Bluse, die sie heute trug und dem grauen Lumpen namens Strickjacke verbarg und vielleicht sehnsüchtig darauf wartete, von ihm Stück für Stück entdeckt zu werden.

Du bist echt ein Sexist!, schimpfte er mit sich selbst, als er sich seiner Gedankengänge bewusst wurde und suchte schnell die Unterlagen, über die er vor wenigen Minuten noch am Telefon gesprochen hatte.

Als er sie noch immer nicht fand, blickte er erneut zu seiner Kollegin. Diese blätterte hoch konzentriert in irgendwelchen Papieren, bis sie mit verbissener Miene etwas in ihre Tastatur einhämmerte.

Nachdem sie und er am Dienstag ein Gespräch darüber geführt hatten, was während seiner Abwesenheit schiefgelaufen war, hatte sie sich im Anschluss bei ihm entschuldigt und wirkte seitdem noch beschäftigter als sonst.

Dabei hatte er ihr noch angeboten, sich ruhig an ihn zu wenden, wenn ihr die Arbeit zu viel werden sollte und man dann schon eine Lösung finden würde.

»Lynn?« Sein Gegenüber zuckte zusammen und sah auf.

»Ja?« Ihre Augen trafen aufeinander, doch ihr abwesender Blick verriet, dass sie gedanklich noch ganz woanders war.

»Hast du die Teilnehmerliste für das morgige Seminar mit Herrn Bruckhauser bei dir liegen? Ich kann sie bei mir nicht finden.«

»Oh. Ja warte. Es hat sich noch etwas an der Teilnehmerzahl geändert.« Zerstreut suchte sie ihren Schreibtisch ab, fand schließlich die Aufstellung und stand auf, um sie ihm über den Schreibtisch zu reichen. »Da ist sie schon.« Ihre Mundwinkel schoben sich mechanisch nach oben.

Sag noch mal, dass du mich liebstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt