Epilog

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Ich renne.

Alles, was ich höre, ist das Rauschen in meinen Ohren, das mich einfach nicht loslässt und jedes andere Geräusch erstickt. Ich höre nicht das Trommeln meiner Pfoten auf dem Boden, ich höre keine Verfolger, ich höre keine Vögel.
Ich höre Rauschen.

Ich merke, dass etwas Nasses meine Wangen hinabrinnt und wäre ich dazu in der Lage gewesen, wäre ich jetzt verdutzt stehen geblieben, doch ich kann ja nicht. Überrascht sehe ich aus dem Augenwinkel an mir herunter. Sind das Tränen? Ich habe noch nie geweint. Nie in meinem Leben.

Immer langsamer werden meine Bewegungen, immer anstrengender. Es fühlt sich an, als würde ich durch diese zähflüssige schwarze Masse schwimmen, die die Zweibeiner mit ihren Monstern manchmal auf den Donnerwegen am Rande des Territoriums hinterlassen. Ist es der Sturm, der in mir wütet, der mich schwächer macht? Der mir meine Kraft raubt?

Ich bin wütend. Und traurig. Und enttäuscht. Alles zugleich. Geht das überhaupt? Kann eine ganz normale Katze das alles fühlen? Gleichzeitig? Ich weiß es nicht. Ich weiß im Moment gar nichts. Alles kommt mir so grau vor, so eintönig. Aber in meinem Kopf ist nur ein Bild.

Deine Augen. Sie glühen so bernsteinfarben wie noch nie zuvor und sie sind stechend und hilflos zugleich. Ich sehe genau das, was ich auch fühle: Enttäuschung, Trauer und Wut. Unbändige Wut. Und gleichzeitig diese Verletztheit, die mich traurig macht. Hast du mich wirklich erst jetzt erkannt? Erst jetzt, als es schon zu spät war?

Ich habe es schon so oft gedacht. Und erst jetzt gesagt.

"Es ist zu spät."

Ist es meine Schuld? Ist es deine Schuld? Das habe ich mich schon so oft gefragt. Und trotzdem habe ich dir nie gesagt, wer ich bin. Nie, obwohl ich immer die Möglichkeit dazu hatte. Und irgendwie war es doch nie der richtige Moment.

Warum auch? Du hättest es nicht gut gefunden. Sauer wärst du gewesen. Du wärst so unglaublich wütend gewesen und wer weiß, was du dann gemacht hättest. Du warst schon immer unberechenbar, das habe ich schon oft gemerkt. Zu oft.

Ich habe schon lange vergessen, was es heißt, glücklich zu sein. Es war immer dieser Zustand des Wartens, des Angepasst-Seins. Nie war ich wirklich glücklich, nachdem ich dich getroffen hatte.

Oder doch? Waren da nicht so Augenblicke, in denen ich dachte, es wären die schönsten meines Lebens?

Waren es offenbar auch. Oder doch nicht? Früher war ich glücklicher. Als ich ein Junges war, unwissend, neugierig. Offen für die Welt.

Dumm.

Ich glaube, das war ich. Dumm. Jung und dumm.

Ich spüre, wie mir ein stechender Schmerz in die Nase fährt und ich fokussiere mich kurz auf das, was vor mir ist. Ein Brombeergebüsch.

Ich bin verwirrt. In unserem Territorium gibt es keine Brombeerbüsche. Bin ich schon draußen? Habe ich die Grenze schon überschritten? Ich war zu abgelenkt.

Unser Territorium. Das hast du immer gesagt, wenn wir zusammen unterwegs waren. Wenn du zu uns gesprochen hast.

Aber war es wirklich unser Territorium? Dein Blick hat immer Bände gesprochen. Du hast es als dein Territorium gesehen, nicht als unser Territorium. War ich denn die einzige, die es bemerkt hat?

Der brennende Schmerz in meiner Nase treibt mir schon wieder Tränen in die Augen und ich hole wieder Tempo auf, hetze um das Gebüsch herum. Ich habe viel zu lange Pause gemacht. Viel zu lange.

Was, wenn mich jemand verfolgt? Wenn jemand versucht, mich zu finden? Wenn du versuchst, mich zu finden? Innerlich schüttle ich den Kopf. Das geht gar nicht. Wie auch...

Es ist doch schon zu spät.

Ich jage an den Bäumen vorbei und die heißen Tränen, die an mir hinunterströmen, versperren mir die Sicht. So viel könnte mir jetzt passieren, doch das ist mir egal. Komplett egal. Ich will nur eins.

Heimat.

War meine Heimat nicht bei dir? So lange? Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zu dir kam. Wann ich sie verlassen habe. Aber jetzt bist du doch weg. Nicht mehr da. Oder?

Plötzlich pralle ich gegen eine Katze und blickte direkt in kleegrüne Augen. Erinnerungen stürzen auf mich ein und ich habe auf einmal vergessen, wie man läuft.

"D-Du?", stotterte ich und werde plötzlich von ihr weggestoßen. Graues Fell, wütende blaue Augen. Ich ergreife die Flucht.

Völlig durcheinander renne ich weiter und ich spüre meine Pfoten sogar während dem Laufen zittern, die Gefühle drohen, mich zu überwältigen. Sie. Du. Warum passiert das alles mir?

Weiterlaufen. Nicht stehen bleiben. Die Katzen hinter mir, die mich verfolgen. Ist das mein Schicksal? Weglaufen?

Plötzlich stehe ich auf einer Lichtung, um mich herum Katzen, die mir den Weg versperren. Sie scheinen vertraut. Und doch so schrecklich fremd. Sehe ich da wirklich Überraschung in ihren Augen?

"Ich bin's...?" 

Ich sehe die irritierten Blicke, teils feindselig. Sie kennen mich nicht. Sie kennen nur Liliensee. Lilie ist für sie eine böse Katze. 

Aber ich will nicht mehr Lilie sein. Hörst du, Royal? Ich will nicht mehr Lilie sein, die von niemandem bemerkt wird. Ich will mehr sein, als nur Lilie. Ich will mehr sein, als ich es bin, seit du Blutfänger bist. 

Ich will Liliensee sein. 

Plötzlich rennt sie auf mich zu. Wirft mich um, ich erwarte das Schlimmste. 
Doch alles, was Himbeersturm tut, ist mir ihre Nase ins Gesicht zu drücken und mich zu beschnüffeln. Und ich sehe genau, wie ihre Augen schimmern. 

"Liliensee", flüstert sie. Und auf einmal sind sie auch da. Lockenreif, Kleefall. Sie stürzen auf uns zu, schließen sich dem Willkommensgruß an. 

Und da sehe ich sie alle. Alle, die mir lieb sind. Die ich nie vergessen habe, obwohl ich nur an dich denken konnte. 

Regenstern, Rosenpelz, Flauschpelz. Mondkristall, Strömpfote. Alle anderen, die ich noch kenne. 
Sie alle sind älter geworden. 

Auch ich bin das. Ich bin älter geworden durch das, was du mit mir gemacht hast. Aber ist das nicht Schicksal? Ich liebe dich immer noch. Irgendwo tief in mir drin. Da ist immer noch diese Flamme in meinem Herzen, die sich nach dir sehnt. 
Ich weiß, dass ich dich hassen sollte. Für alles, was du uns angetan hast. Und das tue ich auch. Aber gleichzeitig liebe ich das auch an dir, deine Klugheit, deine nachdenkliche Art. Deine Leidenschaft mit der du das tust, was du für richtig hältst, sei es noch so falsch. 

Ich liebe dich, Royal. Ich habe es die ganze Zeit getan. Auch, wenn du es vielleicht nicht gemerkt hast. Nicht immer sind Dinge, die man nicht sieht, nicht da.
Sie war  da, du hast meine Liebe nur nicht gesehen. Du hast nicht mich gesehen, sondern Lilie. 

Weil ich immer mehr nur noch Lilie war
 seit du gekommen warst. 




Warrior Cats - Als du kamstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt