Kapitel 4 - Jamie

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Die Dämmerung setzte ein, als ich unbemerkt durch den Hintereingang unseres Hauses schlüpfte. Leise stieg ich die Treppen nach oben in mein Zimmer, wo Holly auf ihrer Pritsche seelenruhig schlummert. Erst jetzt merkte ich wie nervenaufreibend diese Nacht war, trotzdem legte ich mich zufrieden auf meine eigene Pritsche, nachdem ich das Geld unter meinem Kissen versteckt hatte. Ohne weitere Probleme schlief ich ein und bekam noch drei sorgenfreie Stunden Schlaf.

Mein Wecker klingelte pünktlich und ich drehte mich um, um diesem schrillen Klingeln ein ende zubereiten, da blickten mich zwei neugierige blaue Augen an. Beinahe wäre ich von meinem Schlafplatz gefallen, denn normalerweise schlief Holly zu dieser Zeit noch. Müde richtete ich mich auf und blickte aus dem Fenster in den noch jungen Morgen. Es lagen schon ein paar Stunden zwischen meinem Auftritt und ich konnte es immer noch nicht fassen. Doch da saß Holly vor mir auf dem Boden und stellte mir aufgeregt eine Frage nach der anderen. „Hast du den Job, Jamie? Wenn ja wie war es? Hast du viel Applaus bekommen? Und noch viel wichtiger ist, wie viel Geld hast du bekommen?". Sie war kaum zu bremsen. Seufzend lächelte ich, womit ich Hollys wichtigste Frage beantwortete. Leise quietschte sie. „Erzähl mir alles!", forderte sie mich auf und das tat ich. Jedes noch so kleine Detail und Gefühlsregung, denn nur meiner Schwester vertraute ich meine wahren Gefühle an, auch wenn sie manchmal zu jung war um alles zu verstehen. Aber eins ließ ich aus, nämlich meine neue Bekanntschaft. Asran. Irgendetwas an ihm stimmte nicht. Diese Trauer und Schuldgefühle die ich in seinen Augen erkannt hatte als ich ihm von meinem Leben erzählte. Er war nett und charmant keine Frage, vielleicht bildete ich mir auch nur etwas ein. „Und Holly du wirst es nicht glauben sie sind aufgesprungen und haben applaudiert und das meintet wegen! Sie haben Münzen auf die Bühne geworfen, die ich sogar behalten durfte. Insgesamt acht Dines und zwei Goldstücke", beendete ich meine Erzählung. Ich drängte alle Erinnerung an den Boten Asran beiseite und schlüpfte in meine Öl verschmierten Arbeitskleidung. Es fühlte sich gut an ihr zu erzählen, dass es das Risiko wert, denn wenn ich meinen ersten Lohn bekam, könnte sich unsere Familie endlich gute Lebensmittel leisten. Eilig ging ich die Treppen hinunter ohne Mutter zu wecken. Vater würde in wenigen Stunden selbst zur Arbeit aufbrechen. Holly folgte mir in ihrem Nachthemd. Ich hatte ihr gesagt, sie sollte weiter schlafen, doch sie wollte nicht. Anscheinend verstand sie noch nicht wie wichtig Schlaf war. Um etwas zu altes Brot zu frühstücken blieb keine Zeit mehr, also zog ich gleich die schweren, schwarzen Stiefel an. „Geh doch bitte noch einmal zurück ins Bett", bat ich meine Schwester, die aber nur mit dem Kopf schüttelte. Ich strich ihr über das zerzauste kastanienbraune Haar, welches sie ganz offensichtlich von Mutter geerbt hatte und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Der Schichtwechsel stand kurz bevor. Männer und Frauen kamen aus ihren Häusern und fluteten die Straßen. Ich reihte mich in die Menschenmenge ein, in der ich mich so unglaublich verloren fühlte. Die Vögel pfiffen fröhlich ihre unterschiedlichen Melodien, die einsam in der bleiernen Stille erklangen. Alle hielten sie den Kopf gesenkt und Erschöpfung beschwerte ihre Schultern. Keiner wagte es ein Wort mit seinem Nachbarn zu sprechen, als sich die Prozession an den bewaffneten Wachen vorbeischlängelte. Ich rette mich in meine Erinnerung an den Auftritt, vor dieser unerträglichen Stimmung und umklammerte krampfhaft an dieses Gefühl der Stärke, die mich befallen hatte, um die kommend Schicht zu überstehen. Zwölf Stunden harte Arbeit brachte ich schweigend hinter mich. Seite an Seite litten wir gemeinsam, begleitet von schnaufenden Maschinen und dem Quietschen des Laufbands. Ab und an mischte sich das knallen einer Peitsche und ein erstickender Schmerzensschrei darunter, bei dem ich jedes Mal zusammenzuckte. Wie ich dieses Geräusch hasste. Wie ich den König hasse, dachte ich mir. Nur der König konnte der Misshandlung ein Ende setzten, doch er scherte sich einen Dreck um sein Volk. Ich unterdrückte diese auflodernde Hitze, die sich durch meinen Körper fraß und mein gutmütiges Herz erfüllte. Ich hörte auf die Teile auf dem Fließband zusammenzusetzen und rang um meine Fassung, wobei ich lediglich auf meine Hände blickte, die nutzlos auf dem Band schliffen. Wulstige Narben überzogen zahlreich meine beiden Handrücken, welche ich mit den Augen stumm nachzog. Langsam verebbte diese wütende Gefühl und ich holte ein paarmal zitternd Luft, doch so ganz beruhigt hatte ich mich immer noch nicht. Neben mir tippte mich Temly, den ich aus unserer kurzen gemeinsamen Schulzeit kannte, an und warf mir einen warnenden Blick zu, doch es war zu spät. Ich hörte schwere Stiefelschritte näherkommen. Ein Warnknall zerfetzte die Luft. Anstatt einfach die Arbeit wieder aufzunehmen drehte ich mich um. Idiot. Eine bullige Wache ragte vor mir auf und blickte mich finster an. Viele der Arbeiter in meiner Nähe unterbrachen was sie taten und schauten in meine Richtung.

„Wer hat dir erlaubt aufzuhören!", er verstärkte den griff um die Blut befleckte Peitsche, „Auf was wartest du, an die Arbeit mit dir" Ich schluckte und blickte ihn gelähmt an, unfähig etwas zusagen, oder mich zu bewegen. Innerlich verfluchte ich mich für eine weitere dämliche Kurzschlussreaktion. Angst schnürte mir die Kehle zu, das Atmen wurde schwerer. Ich hätte mich erst gar nicht umdrehen sollen, warf ich mir selbst vor. Noch im selben Moment sauste die Peitsche auf mich zu, gerade rechtzeitig konnte ich mich noch abwenden und die Arme schützend vor mein Gesicht heben. Ein ziehender Schmerz breitete sich auf meiner rechten Seite aus und raubte mir kurz den Atem. Ich hätte schreien, weinen, fluchen oder mich wehren sollen, doch meine Unsicherheit brach mir das Genick, stattdessen wand ich mich geschlagen meiner Arbeit wieder zu. Beschämt wagte ich niemandem mehr in die Augen zu schauen, reagierte nicht auf Temlys Frage der sich versichernd wollte das es mir gut ging, sondern ertrank in dem Meer aus Vorwürfen die ich mir machte.

Nightingales CageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt